Demokratie ist überholt? Die Deutschen demokratiemüde? Von wegen. In Hamm und Horn haben sich Menschen nach dem Prinzip des “Community Organizing“ zu einer Bürgerplattform zusammengeschlossen. Einer von ihnen ist Eberhard Mertin, für den es nur einige Stufen zur Demokratie waren.

Es begann mit einer Treppe. Zehn Stufen, etwa 1,80 Meter hoch, die zwei kleine Wege zwischen dem Hammer Steindamm und der U-Bahn-Station Hammer Kirche verbinden. Eine Treppe und ein Weg, die scheinbar so unbedeutend sind, dass sie nicht einmal Namen haben. Doch im Leben von Eberhard Mertin (57) aus Hamm spielen sie eine sehr bedeutende Rolle.

Mertin ist kein Politiker. Im Gegenteil, der ehemalige Elektroinstallateur möchte den Politikern auf die Finger schauen. Sie auf Missstände in seinem Stadtteil aufmerksam machen. Seinen Stadtteil mitgestalten. "Kleine und vielleicht auch mal große Dinge bewegen", sagt er.

Wie beispielsweise das Bezirksamt Mitte auf diese Treppe hinweisen, die nicht behindertengerecht ist, obwohl sie direkt neben einem integrativen Kindergarten liegt, also von Kindern genutzt wird, die ohnedies schon Schwierigkeiten haben, weil ihnen viele Wege verwehrt sind. Die Stufen sind nicht "barrierefrei". "Am Geländer können sich ältere Damen nicht festhalten. Auf der einen Seite sind Brennsesseln, auf der anderen Seite kommen Dornen aus dem Busch hervor, an denen sie sich die Beine verletzen würden. Kinderwagen bekommt man hier auch nicht hinunter, geschweige denn Rollstuhlfahrer", sagt Mertin.

Inakzeptabel sei das. Um solche Missstände in seinem Viertel zu bekämpfen und zu beseitigen, hat er sich Anfang des Jahres "Impuls" angeschlossen, einer Bürgerplattform, die die Interessen verschiedener Gruppen bündelt und daraus wieder gemeinsame Interessen entwickelt. Seit der Gründung von Impuls im November 2007 haben sich 15 Interessengemeinschaften angeschlossen, die sonst nie etwas miteinander zu tun gehabt hätten: der Pfadfinderstamm Charles de Foucauld und die Islamische Gemeinde Hamburg, der Hamm United FC und der Verkehrsclub Nord, um nur einige zu nennen. Oder Menschen wie Eberhard Mertin, die nicht organisiert sind und sich "Informelle Gruppe aktiver Menschen in Hamm und Horn" nennen. Die Mitglieder sind unterschiedlich, ihr Ziel ist gleich: Sie alle möchten sich aktiv in ihrem Stadtteil beteiligen und die Lebensbedingungen für alle Bürger verbessern. Die Treppe ist nur ein Thema, auf die sich die Impuls-Leute geeinigt haben - in einer ganz demokratischen Abstimmung natürlich. Drei weitere Themen, um die sich die Bürgerplattform kümmert, sind neue Räume für die Frauengruppe der Centrum-Moschee zu finden, die Parkplatzsituation an der St.-Olaf-Kirche an Sonntagen zu verbessern und zu hinterfragen, wie die Freizeit von Kindern und Jugendlichen im Viertel gestaltet werden kann, um sie von der Straße wegzuholen.

Von keinem dieser Probleme ist Eberhard Mertin selbst betroffen - dennoch fühlt er sich betroffen und verantwortlich. "Für mich bedeutet Demokratie, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, die ich habe. Es geht doch darum, dass sich alle Bürger wohlfühlen. Warum sollte man sich immer gleich an die Behörde wenden und sagen &39;Hallo Staat, mach mal!&39;, und nicht selbst aktiv werden?" Die Behörden könnten ja nicht alle Bedürfnisse der Bürger kennen.

Wie wichtig demokratische Beteiligung und der Einsatz für seine Mitmenschen sein kann, hat der Rentner als Gewerkschaftsmann bei der IG-Metall gemerkt. 1968 ist er dort eingetreten, als gleichaltrige Studenten auf Demonstrationen die Weltrevolution skandierten. 40 Jahre ist er nun Mitglied, war Vertrauensmann für seine Kollegen bei den Hamburgischen Elektricitäts-Werken, heute Vattenfall. Er beteiligte sich an Tarifverhandlungen, setzte sich mit Vorgesetzten auseinander, las sich an, was für Rechte Arbeiter haben, und teilte sein Wissen. Das brachte ihm die Anerkennung seiner Kollegen ein. Sein Vater, der in den 60er-Jahren als Schauermann am Hamburger Hafen arbeitete und Frachter entlud, wurde dagegen noch gemobbt, als er sich als politischer Mensch outete - und zugab, CDU-Mitglied zu sein. "Sie beschimpften ihn als Verräter. Aber mein Vater ließ sich nicht unterkriegen, auch wenn er ein kleiner und leiser Mann war. Das hat mir imponiert", sagt Mertin. Dennoch wundert es ihn nicht, dass so viele Menschen nicht mehr auf die Demokratie vertrauen: "Unsere Politiker sind doch keine Politiker mehr, sondern Geschäftsmänner, die Manuskripte runterrattern." Der einzelne Bürger zähle da doch nicht mehr.

"Wenn die große Politik überfordert ist oder speziell die Probleme in den Vierteln nicht sieht, nicht sehen kann, dann müssen sich die Bürger organisieren", sagt auch Leo Penta. "Community Organizing" (CO) nennt der katholische Priester von der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin das, was Eberhard Mertin und seine Mitstreiter von Impuls in Horn und Hamm machen: "Selbstorganisation in Kommune" auf Deutsch. Penta ist ein Fachmann dafür. Der Amerikaner hat bereits CO-Projekte in New York und Berlin begleitet und beraten. "Ich bin Anstifter von Selbstorganisationsprozessen", sagt er über seine Arbeit. Für ihn ist die CO von Bürgern nicht nur ein fundamentales Recht in der Demokratie - sondern eine Pflicht: "Darauf zu warten und allein darauf zu vertrauen, dass die Politiker die Dinge schon richten werden, ist eine sehr deutsche Tradition", sagt der Professor. "Wenn eine Lücke entsteht, so wie in Horn, können die Bürger selbst diese Lücke füllen."

Damit diese Eigeninitiative und die Lust auf selbst erarbeitete Lösungen in einer CO funktionieren, gibt es Regeln. Die Plattform muss auf einer breiten Basis von Menschen stehen, die sich beruflich und ethnisch unterscheiden - je verschiedener die Typen, desto vielfältiger die Interessen. Sie darf nur einige wenige hauptamtliche Mitglieder haben; sie muss parteipolitisch, finanziell und ideologisch unabhängig sein; sie muss nachhaltig und dauerhaft angelegt sein, und die Teilnehmer müssen ihre Themen selbst festlegen. Anders als bei einer Bürgerinitiative, bei der ein kleiner Kreis von Initiatoren das Thema festlegt und dann um Anhänger geworben wird. Ein weiterer Unterschied: Die Initiative löst sich auf, sobald sie ihr Problem gelöst hat. Die CO-Plattform bleibt und erfindet sich immer wieder neu.

In den Vereinigten Staaten hat die Aktivität von Bürgern, für eigene Interessen einzustehen, und damit manchmal gleichzeitig gegen die von großen Unternehmen, eine lange Tradition. Die ersten Plattformen entstanden in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts in den Armenvierteln Chicagos. In den dortigen Schlachthöfen organisierten Aktivisten damals den Widerstand gegen Hungerlöhne, unmenschliche Behausungen und Arbeitsbedingungen. Mitte der 80er-Jahre nahm ein heute sehr bekannter Amerikaner einen Job als Community Organizer in der Hauptstadt von Illinois an und half den Bürgern, sich erfolgreich gegen Schlaglöcher, heruntergekommene Parkanlagen und Wohnungen zu wehren. Sein Name: Barack Obama.

Was in Chicago schon lange zur Tradition gehört, beginnt in Hamburg Hamm und Horn gerade erst. Beginnt für Eberhard Mertin, der auf den Stufen zwischen Hammer Steindamm und der U-Bahnstation Hammer Kirche sitzt. "Ich bin durch meinen Stadtteil spaziert und dachte: Mir gefällt nicht alles, was ich sehe", sagt er und erzählt von dem verwilderten Park, um den sich keiner kümmert. Von den Pflastersteinen, die aus dem Boden ragen und Felgen von Fahrrädern zerstören. Er spricht von dem Unkraut, das an den Rändern der "Problemtreppe" wuchert. Und wieder von der Treppe, die nicht "barrierefrei" ist.

Seltsam, dieses Wort, das so sehr nach Beamten-Deutsch klingt, obwohl sich im Moment kein Beamter darum kümmert. Vielleicht auch nicht kümmern kann. Es klingt nach Spießbürger, nach kleinkariert. Aber nicht für Eberhard Mertin. "Für mich steht sie wie ein Mahnmal dafür, dass Rollstuhlfahrer und alte Damen vom normalen Leben ausgeschlossen werden, weil sie diesen Weg nicht nutzen können", sagt er. Für ihn stehe die Treppe dafür, dass man sich als Bürger mit den Zuständen nicht einfach zufrieden gibt, sondern sich widersetzt, seine Meinung sagt. Sich für eine Sache engagiert. Für andere.

"An dieser Treppe", sagt er, "habe ich Demokratie geübt."