In Bliestorf bei Lübeck haben sich ein paar Menschen zusammengeschlossen, um ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Sie gründen ein Dorf, damit Nachbarschaft und Gemeinschaftsgefühl wieder einen Ort haben.

Am Ende der Allee, die aus der Gemeinde Bliestorf hinausführt, taucht eine rote Scheune auf. Die Zeiger der rostigen Uhr am Ostgiebel stehen seit Langem auf zwei Uhr. Einige Scheiben der Sprossenfenster fehlen. Zur Rechten, hinter Bäumen und Sträuchern verborgen, liegt das weiße Herrenhaus, in dem noch die Familie des Freiherrn von Schröder wohnt, dem das ganze Gebiet etwa hundert Jahre lang gehörte. Dahinter lagert in einer weißen Scheune Getreide. Links grasen zwei Pferde. Ein Traktor parkt neben ein paar Ballen Stroh unter einem Wellblechdach, und daneben steht die alte Schmiede. Hier, zwölf Kilometer südlich von Lübeck im Kreis Herzogtum Lauenburg, liegt das Dorf der Zukunft - das "Zukunftsdorf Bliestorf".

Der Informationsraum in der Scheune lädt schon mal ein; da können sich Besucher ein Bild von dem machen, was bisher noch die Vision von etwa 20 Menschen ist. Die wollen mit Bliestorf einen Ort schaffen, in dem Menschen sich umeinander kümmern, die Natur respektiert wird und jeder das zur Gemeinschaft beisteuert, was er am besten kann. Die Zukunft ist Nachbarschaft. Heilpädagoge Joachim Lentz, Agraringenieur Roman Böhm und Architekt Georg Feyerabend gehören dazu.

Mit 30 000 Euro aus EU-Töpfen und jeder Menge Eigenleistung konnte der Gemeinschaftsraum kürzlich eingeweiht werden. Drinnen riecht es noch nach Farbe. Ein kleiner Gasofen sorgt grad mal für zwei warme Hände.

Der Gutshof befindet sich noch heute im Besitz der Familie von Schröder. Das ursprüngliche Rittergut wurde zu einer klassizistischen Anlage mit vier Torhäusern umgestaltet. Im 19. Jahrhundert wurde die geschlossene Form aufgebrochen und um einen Landschaftspark und mehrere Gebäude erweitert. In den Siebzigerjahren brannten einige Gebäude ab.

"Unser Ziel ist es, mit Ergänzungen die alte klassizistische Anlage in ihrem Ausdruck wieder aufzunehmen und die alten Torsituationen wieder neu zu fassen", sagt Feyerabend. Die Einfahrt in den Gutshof muss neu gestaltet werden. Bestehende Gebäude werden behutsam saniert und zu Niedrigenergiegebäuden umgebaut. "Das Herzstück des Projektes, das vor zehn Jahren aus einer Elterninitiative entstand, sind junge Erwachsene mit Lernbehinderung oder sozialen Schwierigkeiten, denen wir eine Heimat geben möchten", sagt Lentz. Er spricht von "Grenzgängern", weil sie weder in eine Werkstatt für behinderte Menschen gehören, noch Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben. Sie sind genau an der Grenze dazwischen. In den Betrieben, die sich in Bliestorf ansiedeln werden, sollen sie ihre Chance bekommen, zum Beispiel in der Landwirtschaft von Böhm, der im April den Betrieb aufgenommen hat. Die erste Saat, Kartoffeln und Getreide, hat er ausgebracht. Die ersten Rinder kommen in einem Monat. "Vor zwei Wochen habe ich noch in Hamburg gearbeitet", sagt Böhm, der seit 20 Jahren mit Menschen mit Handicap arbeitet. Nun wagt der 52-Jährige den Neuanfang, macht sich selbstständig und stellt seinen Betrieb auf Bio um. Sein Anliegen: auf dem Gut einen neuen Sinn entstehen zu lassen.

Auch ein Stahlbau-Betrieb wird bald auf den Gutshof umziehen. Noch hat die Firma ihren Sitz in Lübeck und Schwarzenbek. Doch das wird sich bald ändern. Unmittelbar vor der Betriebsaufnahme stehen auch ein Forst- und Sägebetrieb und eine Zimmerei. Der Platz für den Sägebetrieb, der noch in Koberg ansässig ist, wird gerade vermessen und vorbereitet. Jetzt schon arbeiten dort drei Praktikanten, Grenzgänger auch sie. "Das funktionierte in der ersten Woche reibungslos", sagt Lentz. Danach fing einer der Jungs an, in den Pausen heimlich den Kühlschrank des Chefs zu plündern. In solchen Fällen schreitet Lentz dann ein. Mit deutlichen Worten macht er dem Berufsein-steiger klar, dass er sein Pausenbrot mitzubringen hat.

Hilfestellung erhalten aber nicht nur junge Erwachsene. Auch ältere Menschen, die Unterstützung im Leben brauchen, sind willkommen. Denn das Zukunftsdorf versteht sich als offenes Projekt. Es ist für jeden etwas, der sich nach Gemeinschaft sehnt. Was hier verwirklicht wird, hängt von den Menschen ab, die die Initiative ergreifen. "Jeder, der an dem Projekt teilnehmen möchte, muss bereit sein, seine Fähigkeiten einzubringen", sagt Lentz. Dabei wird aber niemand an einem materiellen Maßstab gemessen. Trotz unterschiedlichem Leistungs-niveau soll jeder Beitrag an die Gemeinschaft anerkannt werden. Soziale Arbeit wird als Aufgabe des Gemeinwesens verstanden, so wie es früher auf dem Land üblich war. Nur dass dieser gemeinschaft-liche Zusammenhalt im Fall "Zukunftsdorf Bliestorf" erst noch wachsen muss.

Doch auch daran hat Lentz gedacht: "Das soziale Leben und der gemeinschaftliche Zusammenhalt sollen in unserem Kultur- und Bildungszentrum durch Weiterbildung, kulturelle Angebote und Feste gefördert werden." Wer zusammen feiert, wird auch im Alltag Probleme miteinander einfacher lösen können. Und ein Fest ist im-mer eine gute Möglichkeit, die Bewohner der Gemeinde Bliestorf in das künftige Leben auf dem Gut einzubeziehen. Auch letzte Skeptiker könnten dann von dem Projekt überzeugt werden.

In Bliestorf gibt es seit mehr als 50 Jahren soziale Arbeit. Mit den drei im Ort ansässigen Einrichtungen wird schon jetzt eng zusammengearbeitet. Neben den Eltern von betroffenen Kindern und Jugendlichen, zu denen auch Joachim Lentz gehört, engagieren sich zunehmend Außenstehende.

Es wurden zwei verschiedene Trägerschaften gegründet: Die "Projektentwicklungs-GbR" und die "Bliestorfer Wohngenossenschaft". Die Gesellschaft koordiniert die Zusammen-arbeit der verschiedenen Projekte. Jedes einzelne Teilprojekt baut sich seine eigene Finanzierung auf. Die Aufgaben sind sinnvoll verteilt: Die Wohngenossenschaft hat die Aufgabe, nötigen Wohnraum bereitzustellen. Sie plant und vollendet den Bau unter Leitung von Architekt Georg Feyerabend. Feyerabend lebt seit mehreren Jahren in Bliestorf und war sofort von dem Projekt überzeugt. Im Sommer soll im Westgiebel der Scheune der Ausbau der ersten sechs Wohnungen beginnen. Das Erdgeschoss soll rollstuhlgerecht umgebaut werden. In eine der Dachwohnungen könnte später auch einer der Grenzgänger einziehen.

Die Hälfte der Apartments ist bereits vergeben. Eine Familie aus Hamburg wird einziehen und eine Pädagogin, die zurzeit noch in England lebt und wieder zurück nach Deutschland kommen möchte. Weitere Wohnungen entstehen im Herrenhaus, in dem noch Freiherr Rudolph von Schröder mit seiner Familie lebt. Sie werden in das ehemalige Verwaltergebäude ziehen, das direkt an den Gutshof grenzt.

70 bis 90 Menschen können zukünftig in dieser Nachbarschaft leben, wobei nicht jeder von ihnen hier auch arbeiten wird. Das Dorf soll ja kein abgeschlossener Raum werden. Die Offenheit bleibt erhalten.

Und die alte Uhr am Ostgiebel der Scheune? Sie wird überholt. Und ihre Zeiger auf Zukunft gestellt.


www.zukunftsdorf-bliestorf.de