Neu-Geboren-Werden - das bedeutet der Frühling. Er ist das Kribbeln, die Irritation, das Abweichen von der Norm. Lassen wir es zu, und brechen wir endlich auf. In ein aufregendes Jahr.

Lange genug haben wir ihn ertragen müssen, den alten Mann mit dem langen weißen Bart. Und noch zu Ostern hat er uns gezeigt, wer der Herr der Jahreszeit ist. Hätte man sich nicht der alten Bergbauernweisheit "März-Schnee tut nicht weh" erinnert - ein leichter Trübsinn wäre kaum zu vermeiden gewesen.

Doch die Zeit ist reif. Das Licht wächst, die Temperatur steigt, der Frühling kommt. Bestimmt. Je länger er auf sich warten lässt, desto mehr wird er sich dann beeilen. Und spüren wir ihn nicht bereits in Leib und Seele? Kribbelt es nicht schon überall? Das können doch nur die berühmten Frühlingsgefühle sein. Zwar scheinen diese bisweilen noch im Kampf mit der berüchtigten Frühjahrsmüdigkeit zu liegen. Aber die Zuversicht wächst von Stunde zu Stunde und von Tag zu Tag. Sieger kann nur einer werden: der Frühling mit seinen Gefühlen. Im Tale grünet Hoffnungsglück.

Ist es nicht erstaunlich, dass wir trotz aller Kultur und Zivilisation noch so stark vom Lauf des Jahres geprägt sind? Wir, die den Tag zur Nacht machen, mit Zentral- und Autoheizung die Kälte vertreiben und mit künstlichen Bräunungsinseln den Neigungswinkel der Sonne kultürlich korrigieren möchten, wir - sehnen uns so nach dem Frühling! Warum? Gewiss, es spielen hier immer noch elementare biologische Begebenheiten herein. Die "endokrinen Drüsen", so erzählen es uns die Mediziner, rüsten zu dieser Jahreszeit auf und versorgen uns mit Hormonen, die belebend und beseelend und bisweilen gar berauschend wirken. Das ist nicht zu bestreiten. Und es ist gut so. Aber daneben ist es wohl auch und vermehrt die Symbolik und Metaphorik, die mit dem Begriff "Frühling" einhergeht. Frühling, das ist auch: Auflösung der Verkrustung, Verjüngung, Hoffnung, Aufbruch, Neuanfang.

Wir sind eben immer beides: Natur- und Kulturwesen. Und wir sind es so, dass wir nicht fein säuberlich das eine vom anderen scheiden können. Als Naturwesen sind wir immer schon kultürlich geprägt und als Kulturwesen bleiben wir Natur - bisweilen sogar mehr als uns recht ist. Frühling ist und bleibt für uns: Neuanfang. Theodor Fontane hat diese Parallelisierung und Einheit im Gedicht "Frühling" treffend charakterisiert. In der letzten Strophe heißt es hier: "O schüttle ab den schweren Traum / Und die lange Winterruh: / Es wagt's der alte Apfelbaum, / Herze, wag's auch du."

Aber die einschlägigste und wohl auch bekannteste Stelle aus der gesamten deutschen Literatur, in der das Aufbruchhafte des Frühlings in der Natur ins geistig-menschliche Sein gewendet wird, findet sich in Goethes "Faust", und zwar im ersten Teil, und hier wieder in der Szene "Vor dem Tor". In der Regel wird diese Szene vom christlichen Osterfest her verstanden. Das ist aber nicht oder allenfalls nur zum Teil richtig. Vergegenwärtigen wir uns kurz den Zusammenhang. Zunächst wird das Wirken des Frühlings angesprochen. Faust spricht den berühmten Monolog während eines Spaziergangs mit seinem Famulus Wagner: "Vom Eise befreit sind Strom und Bäche / Durch des Frühlings holden, belebenden Blick, / Im Tale grünet Hoffnungsglück; / Der alte Winter in seiner Schwäche / Zog sich in raue Berge zurück." Faust wendet sich während dieses Monologs nach der Stadt zurück und sieht das "bunte Gewimmel" aus dem "finstern Tor" hervordringen. Und dann die Anspielung auf Ostern: "Jeder sonnt sich heute so gern. / Sie feiern die Auferstehung des Herrn." Nun aber folgt unmittelbar darauf folgender Vers, der eine auf den ersten Blick merkwürdige Begründung gibt, und zwar eine Begründung der Feier der "Auferstehung des Herrn": "Denn sie sind selbst auferstanden".

Nimmt man diese Stelle ernst, und das muss man selbstverständlich, so feiern die Menschen die Auferstehung des Herrn, die vor vielen Hunderten von Jahren stattfand, weil sie selbst auferstanden sind - weil sie frühlingshaft aufbrechen zu Neuem. Die auf diese Begründung folgenden Verse beschreiben dann, woraus sie auferstanden sind: "Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern, / Aus Handwerks- und Gewerbesbanden, / Aus dem Druck von Giebeln und Dächern, / aus der Straßen quetschender Enge, / Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht / Sind sie alle ans Licht gebracht."

Das ist zweifellos ein starkes Stück Literatur, und nicht nur Literatur. Selbst aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht sind sie aufgebrochen! Also nicht die Kirche hat den Aufbruch verursacht, sondern der Aufbruch ließ sie die Kirche und die Bande des Gewerbes und Handwerks verlassen. Das will sagen: Ostern ist erst dann ein Fest im nachdrücklichen Sinne des Wortes, wenn es Frühling im Sinne von Aufbruch und Neuanfang und Neugeburt, von - Auferstehung ist. Sonst ist es nur ein altehrwürdig-langweiliger und bisweilen verknöchert-bürokratischer Ritus, der keinen Bezug mehr zu unserem Inneren hat; sonst werden immer nur die alten Konflikte ans Licht gezerrt, zum Beispiel die zwischen Juden und Christen - so wie jüngst anlässlich des katholischen Karfreitagsgebetes zu "Erleuchtung" der Juden. Zu "Volkes wahrem Himmel" wird Ostern erst dann, wenn "groß und klein jauchzet": "Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein!"

An diesen Aufbruch ist bei Goethe eine Sozialutopie geknüpft: Allen soll es gut gehen, alle sollen zufrieden sein, die Schranken des Gewerbes, der gesellschaftlichen Klassen und Schichten sollen fallen. Selbst der einsame Grübler kann sich dem nicht entziehen. Faust mischt sich unters Volk und wird hier freudig begrüßt. So sagt der "Alte Bauer": "Herr Doktor, das ist schön von Euch, / Daß Ihr uns heute nicht verschmäht / Und unter dieses Volksgedräng / Als ein so Hochgelahrter geht."

Auch uns Heutigen täte es gut, wenn wir wieder etwas von diesem frühlingshaften Aufbruch erfahren könnten. Allzu verkrustet erscheinen die Strukturen in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Allzu verknöchert und träge verhalten wir uns auch als Individuen zu uns selbst: Wir leben unseren alten Trott fort und fort und fort, finden nicht den Mut und den Antrieb, es dem Frühling in der Natur gleichzutun - um aufzubrechen ins Neue, bisher Unerfahrene. Ins Unerprobte. Ins Unerhörte. Nehmen wir uns doch den Frühling in der Natur zum Vorbild! Wo bleibt unser Mut, wenn selbst der alte Apfelbaum es wagt? Herze, wag's auch du!

Wie die Natur Jahr für Jahr von sich den Aufbruch verlangt, so ist auch von uns immer wieder dies gefordert: die geistige Neugeburt als eine Neufindung unseres Bezuges zur Welt und zu uns selbst. Selbstbezug und Weltbezug gehen für uns Menschen Hand in Hand.

Viel könnte das Individuum, könnte die gesamte Gesellschaft für ihr Leben gewinnen, wenn man das Erwachen im Frühjahr als Erwachen und Neugeburt auch des gesellschaftlichen sowie des geistigen, seelischen und leiblichen Seins feiern könnte.

Im Zen-Buddhismus gibt es den Begriff des "Satori". Meist übersetzt man den Begriff mit "Erleuchtung". Die weitaus bessere Übersetzung aber ist - Erwachen! Es ist ein Erwachen aus dem Winter: aus dem Gängigen, aus dem Alltag. Dieses Erwachen ist das Erwachen des menschlichen Frühlings, das dann nicht unbedingt an die Jahreszeit Frühjahr gebunden sein muss.