Wenn man zum ersten Mal spießig genannt wird, ist das ein Schock. Aber dann zuckt man nur kurz - um festzustellen: Da ist was dran.

Es ist gerade eine Woche her: Eine geschätzte Kollegin trat an meinen Schreibtisch. Sie suche noch jemanden, sagte sie, der ihr ein Essay über das Thema Spießigkeit schreiben könnte. Und da habe sie an mich gedacht, sagte sie. Möglich, dass ich sie leicht pikiert angesehen habe. Spießigkeit und ich, so konstatierte ich unwirsch - das seien doch Welten, die so wenig zusammen passen wie Teufel und Weihwasser, wie Kunstturnen und Fettleibigkeit, wie Vanilleeis und Weizenbier. Ich fragte folglich die junge Kollegin, warum sie denn bei diesem Thema ausgerechnet auf mich komme. Es arbeiteten, so meine Argumentation, ja ganz schön viele Menschen hier, und wenn ich mich so umschaue - nun ja. Sollte ich unter all diesen Menschen derjenige sein, auf den dieses Attribut am besten passt? Die Kollegin antwortete auf meine Frage: "Du warst letztes Jahr im Wanderurlaub. Du wohnst am Stadtrand. Und du hast einen Garten." Bis dahin nicht des Umstandes gewahr, dass diese Kriterien mich unter den Verdacht stellen, fortschrittsfeindlich zu sein, willigte ich ein, mir zu diesem Thema Gedanken zu machen.

Denn es ist ja wahr: Ich (40) erfülle zumindest reichlich viele jener Kriterien, die Mr Szenegänger und Mrs Obercool unter den Oberbegriff der Spießigkeit stellen könnten: Ich war schon mal wandern, ich wohne am Stadtrand, ich habe einen Garten. Und, dies nur zur Abrundung: Ich mag Jeans auch, wenn sie noch nicht durchlöchert sind.

All dies sind Anzeichen dafür, dass ich längst nicht mehr zur Speerspitze des Jugendwahns tauge. Erwachsenwerden, das heißt spießig werden. Es ist ein Privileg der Jugend, Spießigkeit verachtenswert zu finden. Denn, ach, was haben auch wir damals, als wir es noch nicht besser wussten, über die Spießer gelacht. Über ihre Häkeldeckchen, über Socken in Sandalen, Schrebergartenglück, Tischmülleimer und Eierlikör. Und nun? Wachsen wir, Mütter und Väter, Arbeitnehmer, Mittelstand, im Sportverein, selbst in die Rolle der Verlachten hinein. Wandern, Stadtrand, Garten, ein Alltag zwischen Tupperdosen und Terrakotta. Aus Revoluzzern sind Relativierer geworden. Statt weiter aufzubegehren, sitzen wir mit merkwürdigen US-Kinderkarren beim Portugiesen. Jetzt gerne draußen.

Was werden die Statussymbole unserer Generation sein, die die nachfolgende im besten Falle belächeln, im schlechteren verlachen wird? Unsere sündhaft teuren Latte-macchiato-Maschinen von Saeco und Jura? CD-Regale, Phono-Möbel und Schlafsofas? Ikea-Serienkunst, Baumarkt-Gutscheine, Best-Of-Alben und Prosecco-Treffs? Wahrscheinlich alles. Was spießig ist, haben ja nicht die zu beurteilen, die als spießig gelten. Indes: Wenn wir Bestand aufnehmen, entdecken wir so einiges.

Wie gesagt: Wir waren Wandern. Und fanden es wundervoll. Es wäre eine hehre Aufgabe für professionelle Imageberater, das Wandern von dem Ruf zu befreien, eine Freizeitbeschäftigung nur für Geriatrie-Patienten zu sein. Wobei die Spießigkeit, und das ist die andere Seite, sich schon im Ansatz zeigt. Wer mit Kind und Liebster zum Wandern nach Südtirol fährt, der erwartet von seinem Urlaub, den Kopf frei zu bekommen, durchatmen zu können und klare Luft zu tanken. Soweit ich mich an frühere Urlaube erinnere, war das in meiner Jugend - und ich beanspruche für diesen Satz Allgemeingültigkeit - das Allerletzte, was wir von den schönsten Wochen des Jahres erwarteten. Bei unseren leidlich vorbereiteten Trips nach Mykonos, Calella oder Silvesterwochen in Dänemark galt es vielmehr, möglichst wenig Zeit bei vollem Bewusstsein zu erleben. Ein anderer, weniger spießiger Ansatz, gewiss. Erholt haben wir uns damals wie heute. Damals allerdings eher geistig als körperlich. Inzwischen können wir das nicht mehr. Ich jedenfalls kenne keinen Mittdreißiger/Anfangvierziger, der freiwillig noch mit Rainbow-Tours Busurlaub am Balaton machen würde oder der Lloret de Mar seinen liebsten Urlaubsort nannte. Wir können den Rausch nicht mehr am Strand ausschlafen, kommen mit drei Stunden Schlaf nicht aus und greifen eher zu Ohropax als zu halluzinogenen Pilzen. Für so was haben wir viel zu oft Rücken. Oder Kreislauf. Oder Übergewicht. Wir wissen außerdem, dass wir mit unseren Badelatschen in den Refugien der Jugend so ungern gesehen sind wie Kunstschänder im Centre Pompidou oder Sodomisten im Streichelzoo.

Unsere Disco ist das Spa. Hier sehen wir und werden gesehen. Mit Pech auch mal vom eigenen Chef. Hier tun wir etwas für unsere Körper und kämpfen gegen allzu offensichtliche Anzeichen des Alterns. Vergeblich meist, und vermutlich spöttisch beäugt von der Jugend, die sich derweil lieber im Internet selbst zerfleischt. Auch da zeigt sich unsere Spießigkeit: Wir waren immer nett zueinander. Tun uns nicht weh, wo es nicht sein muss. Unsere Angewohnheit, lieber über- als miteinander zu reden, hat sich allerdings bei unseren Kindern potenziert. Wir haben uns nicht an jedem Nachmittag gegen Verleumdungen in einschlägigen Internetforen zu wehren. Wir kontakten uns wohlwollend bei Xing oder StayFriends. Und freuen uns, wenn unsere Kontakte in der Computerwelt zahlreich und mitteilsam, nicht aber fordernd sind. Probleme unserer Kinder lösen wir, indem wir Gespräche mit Lehrern suchen. Die Probleme, die die Kinder sich untereinander machen, legen wir ab in dem Ordner "Ärgerliches und Schicksal". Weil die Häuser der anderen Eltern keine Schilder mit Sprechzeiten neben der Tür haben und wir Befürchtungen hegen, dass das Angehen solch ernsthafter Probleme uns als Spießigkeit ausgelegt werden könnte.

Da beschäftigen wir uns doch lieber mit Unterhaltungselektronik. Wir sind in der glücklichen Lage, uns ein Smartphone schon leisten und noch begreifen zu können. Während unsere Eltern sich freuen, dass die Angebots-Mails von Aldi immer so schön pünktlich auf den mausgrauen PC flattern und unsere Kinder sich mit den von uns geprepaidten Telefonkarten Happy-Slapping-Videos hin- und herschicken, genießen wir die neue digitale Freiheit. Aber auch iPhones werden eines Tages so überholt sein wie wir selbst. Ziemlich sicher. Fetische haben geringe Halbwertszeiten. Wir warten gespannt auf das, was noch kommt. Und freuen uns, unser Geld so fortschrittlich ausgeben zu dürfen. Gern laden wir uns dann den Soundtrack unseres Lieblingsmusicals im Internet herunter. Damit wir uns immer noch mal an diesen tollen Abend erinnern.

Dabei hatten wir es doch eigentlich leicht, uns musikalisch gegen unsere Eltern abzugrenzen. Wir sind die Generation der vom Schlager geprügelten. Wir wuchsen mit Cindy, Bert, Roy Black und Roberto Blanco auf. Dann hörten wir "Musik für junge Leute" und wussten, dass es eine Welt jenseits der Tränendrüse gab. Unsere entspießte Welt. Dass Musik heute immer, überall und in jeder Form verfügbar ist, macht es den Jungen nicht eben leichter, sich gegen uns abzugrenzen. Auch wir hören isländischen Indie-Rock, Ska aus Israel und Songwriterinnen aus Schweden. Vielleicht nicht mehr so laut wie früher, aber noch immer gern. Weil wir es uns nicht zutrauten, den Nachbarn die Notwendigkeit der Installation einer Garten-Surround-Sound-Beschallung auf unserer Scholle der Neubausiedlung argumentativ schlüssig zu vermitteln, haben wir uns Funk-Kopfhörer gekauft. Mit denen liegen wir dann gern auf der günstig geschossenen Gartenliege und hören Tomte. Eine Band, die zumindest in puncto Reflexion zum Thema Spießigkeit die legitime Nachfolge von Udo Jürgens angetreten hat. Und die selbst in der frühen Phase ihres Erfolges vom Hamburger Publikum als "linke Spießer" beschimpft wurde. Vermutlich, weil ihr Frontmann Thees Uhlmann in einem V-Ausschnitt-Pullover, der nach Kaschmir-Anteil aussah, vor dem szenigen Publikum stand. Einen solchen tragen auch wir im Sommer gern. Im Garten, am Stadtrand. Aber nicht beim Wandern. Da führen wir unsere Powerwalking-blaue Funktionskleidung aus dem Karstadt-Sporthaus aus. Und atmen frische Luft, kriegen einen klaren Kopf und genießen die Weite. Wissend, dass die wahren Spießer jene sind, die das Wort "Spießer" für jene verwenden, die ihnen aus welchem Grund auch immer unliebsam sind.