Was haben die Seeräuber, die am Horn von Afrika Schiffe überfallen, mit den legendären Freibeutern der Geschichte zu tun? Sie sind die Nachfolger von Störtebeker, Henry Morgan und Blackbeard. Aber ihnen fehlt das Image der berühmten Helden.

"Im ehrlichen Seedienst gibt es kärgliche Kost, niedrige Löhne und harte Arbeit. Hier dagegen Überfluss und Reichtum, Vergnügen und Muße, Freiheit und Macht. Und wer würde sein Schicksal nicht auf diese Seite der Waagschale werfen, wenn das damit eingegangene Risiko im schlimmsten Fall darin besteht, dass ihm bei der Hinrichtung der eine oder andere hässliche Blick zugeworfen wird. Nein, ein munteres und kurzes Leben soll mein Motto sein". Piratenkapitän Bartholomew Roberts

Ein offenes Boot, zwei schwere Yamaha-Außenborder und ein paar ausgemergelte Typen - die Bilder somalischer Piraten sind weit weg von Hollywoods "Fluch der Karibik". Kein Johnny Depp an Bord, kein Burt Lancaster. Keine Goldketten, Augenklappen oder sonstiges Piratenzubehör, wie wir es aus dem Kino kennen. Nur fleckige T-Shirts und rostige Panzerfäuste. Opfer sind nicht goldbeladene spanische Fregatten, sondern Container-Frachter, auf denen philippinische Crews ein ödes Arbeitsdasein fristen. Schwer vorstellbar, dass sich dereinst einmal kleine Jungs zum Fasching als Somalia-Piraten verkleiden. Dass Hollywood einen "Fluch des Golf von Aden" produziert oder liebevoll illustrierte Kinderbücher mit kleinen Kalaschnikows zum Ausklappen erscheinen.

Der Mythos der Piraten lebt eben von der Vergangenheit. "Doch man muss sich da nichts vormachen", sagt der Schiffshistoriker und Piraten-Experte Andreas Kammler, der bei Cuxhaven lebt. "So wie heute die Piraten in Somalia Verbrecher sind, so waren es die Piraten der Vergangenheit auch." Und so wie heute die deutsche Marine Seeräuber jagt, so taten es die Marinen vergangener Jahrhunderte auch. Solange es Seehandel gibt, so lange gibt es auch Seeräuber.

"Ich müsste keine Schifffahrt kennen. Krieg, Handel und Piraterie, dreieinig sind sie, nicht zu trennen", heißt es im "Faust" von Goethe. Und wenn es irgendwo zu doll wird mit der Piraterie, dann verstärkt sich auch der Druck auf die Seeräuber. Piraterie, sagt Kammler, hat es bis in moderne Zeiten immer gegeben. Vor Indonesien etwa, oder auch an westafrikanischen Küsten. Einzelaktionen, die in die Kalkulation der Reeder mit eingehen. Im Golf von Aden wurde Piraterie nun zum Massenproblem. 2008 registrierte das Schifffahrtsbüro der Internationalen Handelskammer weltweit 293 Überfälle, 11 Prozent mehr als 2007. Fast 900 Seeleute wurden verschleppt, elf getötet. Etwa 100 Piraten-Attacken geschahen im Golf von Aden. Die Piraten arbeiten dort mit offenen, schnellen Booten fern der Küste, Mutterschiffe dienen als Basis. Die Angriffe auf den entführten Hamburger Gastanker "Longchamp" und die vereitelte Attacke auf den Hamburger Containerfrachter MS "Courier" sind nur zwei aktuelle Fälle unter vielen.

Doch woraus nährt sich der Mythos der Piraten? Was macht die Verbrecher von damals heute zu Helden? Selbst Philosophen beschäftigen sich mit dem Phänomen. Von der "Theorie des Piraten" ist bei Peter Sloterdijk zu lesen.

Viel hat dieser Mythos mit dem Schauplatz des Geschehens zu tun, sagt Schiffshistoriker Kammler. "Ozean und Seefahrt - das klingt nach Fernweh und Abenteuer." Stoff für spannende Geschichten eben. Und es lockt das Image des sympathischen Freibeuters und Draufgängers - so wie ihn Burt Lancaster als "roten Korsaren" darstellte: Ein Robin Hood zur See, der die Reichen beklaut, die Armen beschenkt und von den Frauen angehimmelt wird.

Auch die somalischen Piratenführer haben in Interviews dieses Bild schon bemüht. Und selbst in der Internet-Bibliothek Wikipedia findet sich ein solcher Erklärungsversuch: Danach haben westliche Fabrikfangschiffe das staatliche Chaos in Somalia ausgenutzt, um die Küsten leer zu fischen. Die Fischer hätten sich dagegen nur gewehrt, der Anfang der Piraterie sei somit vom Westen selbst gelegt.

Möglich, dass so aus Fischern tatsächlich Seeräuber wurden. "Niemand sagt von sich, er sei Verbrecher, man bastelt sich immer eine Legitimation zurecht", sagt Piratenexperte Kammler, der den historischen Bogen vom Golf von Aden zur Karibik des 17. und 18. Jahrhunderts schlägt. Auch damals gab es dort kaum fest organisierte Staatlichkeit. Von Europa eingesetzte Gouverneure arbeiteten fern der Heimat gern mal mit Piraten zusammen, um die Privatschatulle zu füllen - so wie es heute somalische Warlords auch machen.

Ein System, das nur mit entsprechendem Hinterland funktioniert. In der jungen Kolonie New York etwa gab es einige Geldgeber von Piraten-Unternehmungen. Selbst Politiker waren darunter, und mancher Seeräuber wie William Kidd verkehrte dort in besten Kreisen. Womöglich basiert manches heutige Familienvermögen noch auf solchen Wurzeln. "Piraterie war und ist immer vor allem organisierte Kriminalität", sagt Kammler.

Dennoch liegt im Wort Freibeuter bis heute etwas Rebellisches; etwas, das Piraten nicht nur schlecht und verbrecherisch, sondern frei und wild erscheinen lässt. "Gottes Freunde und aller Welt Feinde", war ihr Wahlspruch zu Zeiten der Hanse. Die Seeräuber früherer Tage waren in diesem Punkt der Freiheitsliebe oft tatsächlich extrem, sagt Kammler. Und Extreme faszinieren.

An Bord solcher Piratenschiffe gab es zudem eine merkwürdige Ambivalenz aus Freiheit und rigiden Regeln, schreibt Piratenexperte Kammler in seinem Buch "Piraten. Das Handbuch der unbekannten Fakten und schönsten Anekdoten". So wählte die Crew ihren Kommandanten oft selbst. Geteilt wurde die Beute nach einem festgelegten Schlüssel, und einfache Mannschaftsmitglieder hatten weit mehr Rechte als auf Handelsschiffen. Schon die Männer von Hamburgs berühmtestem Piraten, Klaus Störtebeker, nannten sich im 14. Jahrhundert "Liekedeeler", die Gleichteiler.

Kameradendiebstahl oder Feigheit vor dem Feind wurde indes von der Gemeinschaft hart bestraft. Wer als Pirat einen Piraten beklaute, musste damit rechnen, dass ihm Nase oder Ohr abgeschnitten wurde - sichtbares Zeichen seiner Schandtat. An Bord des berüchtigten Piratenkapitäns Bartholomew Roberts war sogar das Fluchen verboten!

Der Schritt in die Piraterie war zudem nicht selten mit einem Abbruch aller Brücken ins bisherige Leben verbunden. Pirat sein - das hatte so etwas Unausweichliches. Bei den "Brüdern der Küste", einem karibischem Piratenbund des 17. Jahrhunderts, war es sogar üblich, dass die Piraten ihre alten Namen vollständig ablegten, sobald ihr Schiff den Wendekreis des Krebses, also einen der beiden Tropen-Breitenkreise, passiert hatte. Der Piratenkapitän Pierre Le Grand ging sogar so weit, dass er um 1630 kurz vor dem Überfall auf ein spanisches Schiff Löcher in die eigenen Boote hauen ließ, damit der Überfall unausweichlich wurde.

Zurück in ihren Schlupfwinkeln ließen Piraten mit reichlicher Beute oft die Sau raus - ganz ähnlich wie es die somalischen Piraten wohl auch heute tun. Nicht ohne Folgen: Nach Schätzungen Kammlers kamen die meisten Piraten gar nicht im Kampf oder am Galgen ums Leben, sondern eher durch Unfälle, einseitige Ernährung, zu viel Alkohol oder auch Geschlechtskrankheiten - was gemeinhin ja nicht so gut fürs Image ist. Ebenso wenig wie die historische Tatsache, dass die Piraten vergangener Jahrhunderte oft reichlich brutal gegen die Mannschaft überfallener Schiffe vorgegangen sind. Die Geschichte des edlen Piraten - alles, na klar, nur ein Mythos. Folter, um versteckte Schätze an Bord zu finden, galt hingegen als gängige Arbeitsmethode.

Das Entführungsgeschäft vor der somalischen Küste verläuft dagegen bisher in den meisten Fällen einigermaßen glimpflich für die Opfer - auch wenn die monatelange Gefangenschaft und Ungewissheit sehr zermürbend sein muss. In der Regel geht es bisher um Lösegeld für Schiff und Crew, das von Versicherungen nach langen Verhandlungen gezahlt wird. Übrigens ist auch das nichts Neues in der Geschichte der Piraterie. Für Hamburger Seeleute gab es im 17. Jahrhundert sogar eine eigene Sklavenkasse. Sie diente dazu, die Männer im Notfall nach einer Kaperung aus den Händen zumeist arabischer Korsaren zu befreien. Ohne Freikauf droht ein Leben als Sklave irgendwo in Nordafrika.

Neu im historischen Vergleich dürfte allerdings der relativ zivile Umgang der westlichen Marinen mit gefangenen Piraten sein. So ist auf einem der Fotos von der Festnahme somalischer Piraten durch die Fregatte "Rheinland-Pfalz" zu sehen, wie ein Marinesoldat kurz vor der Erstürmung des Piratenboots noch einen Gummi-Fender ausbringt. Könnte ja Kratzer am Boot geben. In der Karibik vor 300 Jahren wäre das Piratenschiff wohl eher auf der Stelle versenkt und die Seeräuber gleich gehängt worden. Stattdessen kommen die Piraten nun wohl wie schnöde Diebe vor ein ordentliches Gericht. Bis ihre Geschichten zum Mythos werden können, dürfte noch eine ganze Menge Zeit vergehen.

Mit dem "Fluch des Golf von Aden" muss indes die Schifffahrt heute schon leben.