Schrift-Stücke

In letzter Zeit hatte Isabelle Wagner sich angewöhnt, beim Arbeiten Ohropax zu benutzen. Sie begann erst zu lesen, wenn sie die Seiten einer Manuskriptfahne auf ihrem Schreibtisch umblättern konnte, ohne dabei etwas zu hören. Einer Freundin sagte sie, seit Rainers Auszug sei sie genauso licht- wie lärmempfindlich geworden. Eine Nachwirkung der Trennung, als hätte die Schutzlosigkeit nach drei Jahren Beziehung alle ihre Sinne bis zum Anschlag geschärft. Ihrem Redakteur sagte sie, die völlige Geräuschlosigkeit mache sie noch sensibler für den Sound eines Textes.

Tatsächlich war "Isa liest", ihre Buchkolumne in der "Hamburger Abendpost", seither noch spitzzüngiger geworden. Doch die Wahrheit war viel simpler. Sie ertrug die vertrauten Geräusche nicht, die ihr vorgaukelten, ihr Leben sei noch das alte. Das Pfeifen des Nachbarkindes aus dem zweiten Stock. Das tiefe Singen in den Wasserleitungen. Die Nebelhörner. Und immer wieder Schritte im Treppenhaus, Schritte, die kaum jemals vor ihrer Tür endeten.

Am Freitagmorgen machte sie es sich mit einem neuen Manuskript auf der Ledercouch in ihrem Arbeitszimmer bequem, eine Tasse grünen Tee auf dem Abstelltischchen aus Plexiglas. Der Name hatte sie neugierig gemacht. Isabelle hieß die junge Autorin, genau wie sie. Der Erzählband sollte bei einem ambitionierten Hamburger Kleinverlag erscheinen.

Als sie zu lesen begann, war die Stille vollkommen; als sie bei der Titelgeschichte angelangt war, hörte sie den Rhythmus ihres eigenen Pulsschlages im Innenohr. "Sie kniet vor dem Kühlschrank, Leichenhauslicht auf ihren unrasierten Beinen, zwei Finger in einem Becher mit Kirschjoghurt, unappetitliche Früchte auf dem Bauch verschmiert. Was machst du da, fragt er, und sie antwortet: Ich kann nicht essen, wenn es dunkel ist."

Isabelle Wagner stand auf und ließ die Druckseiten sinken. Sie blickte aus dem Fenster. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite schob eine Frau einen Kinderwagen vorbei, der aussah wie eine Kreuzung aus Ufo und Striptease-Stange. Isabelle Wagner entfernte die gelben Kügelchen aus ihrem Gehörgang, griff zum Telefon und wählte die Nummer des ambitionierten Kleinverlages. "Maja", sagte sie, "schön, dich zu hören. Wir sollten uns mal wieder auf einen Galão treffen."

2 Rainer Haug liebte Schiffe. Schon in seinem Jugendzimmerregal hatten keine Star-Wars-Püppchen gestanden, sondern Segelboote mit Nussschalen-Rumpf, Lego-Flugzeugträger und eine goldene Plastikgondel aus Venedig. Als er mit 35 Jahren zum Ressortleiter Kultur bei Deutschlands größtem Nachrichtenmagazin befördert worden war, hatte er sich vor allem gefreut, dass er eines der begehrten Büros mit Elbblick bekommen hatte.

Isa hatte seine Begeisterung nicht geteilt. Lustlos hatte sie am mitgebrachten Champagner genippt. "Ich verstehe diese Architektur nicht", hatte sie gesagt, "Bürohäuser, die aussehen sollen wie Ozeanriesen, für immer zu einem Leben im Trockendock verurteilt. Kann es etwas Traurigeres geben?" Haug hatte nicht geantwortet und war später am Abend mit der halbvollen Champagnerflasche zum Altonaer Balkon gelaufen. Eine Hundebesitzerin aus der Großen Brunnenstraße stieß mit ihm an. Am nächsten Morgen war er in ihrem Bett aufgewacht und dachte kurz, er sei zu Hause. Auch hier hörte man die metallischen Schläge aus dem Hafen, nur etwas dumpfer als aus Isas und seinem Schlafzimmer.

Seitdem Haug sich von Isa getrennt hatte, hatte er sich angewöhnt, Frauen an Bord eines ehemaligen Feuerschiffes zu treffen, das als Ausflugslokal diente. Der Wein dort war mäßig, die Aussicht jedoch berauschend, und es hatte einen Vorteil, dass man dort von Touristen umringt war. Gerade junge Frauen ließen sich umso leichter beeindrucken, je mehr man sich von einer mittelmäßigen Umgebung abhob.

Bei der Kleinen mit dem herzförmigen Gesicht, die so hieß wie seine Ex und die er letzten Sommer auf einer Lesung in der Hafencity kennengelernt hatte, hatte es funktioniert. Wenigstens fast. Doch obwohl sie sich nicht Isa nannte sondern Bella, wirkte der gemeinsame Name wie eine Störfrequenz, die den Abend in leichter Disharmonie enden ließ. Jedenfalls hatte sie ihn nachts um zwei nicht in ihre WG in der Susannenstraße mitgenommen.

Vielleicht hätte er weniger von seiner Verflossenen erzählen sollen. Oder sich nicht darüber lustig machen, dass Bella irgendwann ein Moleskine-Notizbuch aus ihrer LKW-Planen-Handtasche zog und sich mit zusammengebissenen Lippen Notizen machte. Demnächst, so hatte er gelesen, erschien ihr erster Geschichtenband. Mit Sicherheit würde er eine Einladung zur Buchpräsentation bekommen. Vielleicht erinnerte sie sich noch an ihn.

3 Am Geldautomaten warteten Nutten mit ihren Freiern, die so taten, als ständen sie zufällig in der Schlange. Über der Großen Freiheit blinkten die Neonschilder wie in einer billigen Filmkulisse. Plötzlich fand Maja Lehmann ihre Schritte auf dem narbigen Pflaster zu laut, senkte den Kopf. Nur niemandem ins Gesicht sehen, nur nicht stehen bleiben, das führte um diese Uhrzeit zu Missverständnissen. Sie war sich nicht mehr sicher, ob die Idee mit der Lesung auf dem Kiez wirklich so gut gewesen war.

Vor vier Wochen im Verlag hatte das noch ganz anders ausgesehen. Da hatte sie die Zweifel der beiden Schlipsträger und der Rollkragenfrau einfach weggelacht. Bella Behringer, das waren böse, urbane, erotische Geschichten. Nicht gemacht fürs Literaturhaus mit seinen hochglanzpolierten Handläufen und den Champagnerkübeln hinter der Bar. Bella Behringer passte nach St.Pauli, zu Cocktails im 10-Liter-Eimer und verfleckten roten Teppichen. Genauso musste sie ihr Buch präsentieren: In einem zwielichtigen Laden, an einem sechsten Juni, in einem knappen Kleid auf einem Barhocker. Maja Lehmann fand einleuchtend, was Isa Wagner ihr beim Kaffeetrinken in der Schanze geraten hatte. Im Vertrauen. Unter Freundinnen.

Trotzdem: Irgendetwas hatte nicht gestimmt an diesem Abend. Die Journalisten hatten seltsame Fragen gestellt. Keiner hatte sich für Bella Behringers literarische Vorbilder interessiert oder ihre Meinung zum Islamismus, Feminismus oder zur Globalisierung hören wollen. Lieber wollten sie wissen, was Bella erotisch fand. Und ob die Geschichte der Frau, die nachts im Kühlschranklicht auf ihren untreuen Lover wartet und sich mit Joghurt beschmiert, autobiografisch sei. Nach der Lesung war Bella schnell verschwunden, im Schlepptau den Kulturchef eines Nachrichtenmagazins.

Aus dem Eingang eines Sexkinos dröhnte dumpf eine gerappte Coverversion eines Hans-Albers-Schlagers. Ich bin'n Wrack. Maja Lehmann kaufte sich eine Currywurst und nahm den Bus.

4 Haug hatte Kopfschmerzen. Gleich nach der Ankunft im Büro ließ er die Jalousien herunter. Wenn ein Kater zwei Tage lang dauerte, dann wurde man wirklich alt.

Es war nicht leicht gewesen, die Kleine nach der Buchpräsentation noch zu einem Absacker zu überreden. Sie hatte geweint, die Nase hochgezogen, trotzig einem Taxi gewinkt. Erst als er dem Pressefotografen, der sie beide verfolgte, mit einer Klage drohte, hatte sich Bella so vertrauensvoll an seinen Arm gehängt, dass er seines Sieges sicher war. Danach hatte es nur noch eine Flasche Rotwein von der 24-Stunden-Tankstelle gebraucht, um ihm die Tür in ihr Schlafzimmer in der Susannenstraßen-WG zu öffnen.

So richtig gelohnt hatte sich das allerdings nicht. Wahrscheinlich war es wieder dieser Name, der ihm die ganze Zeit das Gefühl vermittelte, in einem doppelt belichteten Film zu agieren. Der Name Isabelle, ob Isa oder Bella, klang nach einem nackten, zusammengekauerten Bündel Elend auf dem Sofa, nach bleichen Beinen im Kühlschranklicht. Dass Bella ausgerechnet die Geschichte gelesen hatte, die von Isa handelte, hatte ihn unangenehm berührt.

Seine Sekretärin hatte ihm einen neuen Kasten Bionade unter den Tisch gestellt, die Presseschau lag sortiert neben seinem Bildschirm. Fast alle Lokalzeitungen berichteten über Bella Behringers Lesung. "Sex sells - oder auch nicht?", fragte die "Mopo", "Roter Samt und Stilblüten" die "Welt". Die "Zeit" analysierte am Beispiel von Bella Behringer, wie junge deutsche Autorinnen mit immer mehr Showeffekt gutzumachen versuchten, was ihnen literarisch nicht gelang. "Gute Geschichte", murmelte Rainer Haug, "muss ich zur nächsten Redaktionskonferenz mitbringen."

Das Telefon klingelte. Er sah auf das Display und schaltete um auf Mailbox. Mit Bella wollte er nicht sprechen. Wenigstens nicht heute. Dann schlug er das Feuilleton der "Hamburger Abendpost" auf, suchte, blätterte, las. Wunderte sich.

Isa Wagner besprach in ihrer Kolumne ein Sachbuch über berühmte Schiffe und den neuen Roman des Literaturnobelpreisträgers. Über Bella Behringer verlor sie kein Wort.

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