Im Come In am Moorfleeter Deich bereiten sich 28 suchtkranke Kinder und Jugendliche auf die für sie schwierigste Zeit im Jahr vor, Weihnachten. Die Frauen von “Licht im Schatten“ helfen ihnen - nichtnur in dieser emotionsgeladenen Zeit.

Wenn die hübsche junge Frau mit den großen grünen Augen anfängt, ihre Geschichte zu erzählen, stellt sich beim Zuhörer unweigerlich eine Gänsehaut ein. Dabei erzählt Charlotte ohne Pathos, fast schon ungerührt. Konzentriert beantwortet sie alle Fragen. Nur die Erkältung setzt ihr zu. Über Erlebtes zu reden, hat die 19-Jährige in anderthalb Jahren Aufenthalt im Come In gelernt, einer Fachklinik und Therapeutischen Gemeinschaft zur Entwöhnung, Rehabilitation und Reintegration von suchtkranken Jugendlichen in Moorfleet. Hier kommen 12- bis 18-jährige Drogenkonsumenten aus allen Bundesländern her, um in ein Leben ohne Alkohol, Cannabis, Crack, Heroin oder Koks zurückzufinden.

Die Berlinerin beginnt zu erzählen, von ihrem Absturz. Mit neun Jahren fing sie an zu rauchen. Mit zwölf trank sie. Mit dreizehn Jahren lernte sie ein Mädchen kennen. Die sah viel älter aus, als sie war, und kam in jede Disco. Die nahm Charlotte mit, zeigte ihr eine aufregende neue Welt. Charlotte geriet in Zuhälterkreise. "Ich bin nie anschaffen gegangen, aber damit war ich auch die Einzige in meinem Bekanntenkreis", sagt sie. Ihre Eltern ließen sich scheiden, da war Charlotte zwei. Sie blieb beim alkoholkranken Vater, der sie jeden Tag schlug. Bis zu ihrem 15. Lebensjahr. Dann zog sie zu ihrer Mutter. "Damals hörte ich auf zu kiffen und Alkohol zu trinken", sagt Charlotte fast stolz. Dafür nahm sie dann harte Drogen. Um tagelang durchfeiern zu können. Am liebsten im Tresor, Berlins bekanntestem Techno-Klub. Manchmal schlief sie acht Tage nicht, aß kaum noch. "Auf Koks merkst du nicht, ob du müde oder hungrig bist", sagt sie. Auch Gedanken und Gefühle werden ausgeschaltet. Irgendwann durfte sie nicht mehr nach Hause kommen, wenn sie drauf war. Damit ihr kleiner Bruder sie nicht so sieht. Also blieb sie nachts weg, manchmal wochenlang. Zur Schule ging sie nicht mehr.

Ihre Mutter gab ihr eines Tages die Nummer einer Drogenberatung. Entweder sie ließe sich helfen oder sie müsste ausziehen. Charlotte war schockiert. Sie sollte abhängig sein? Das Mädchen bat sich Bedenkzeit aus. Zwei Wochen später nahm sie den Telefonhörer in die Hand. Als sie am 9. August 2007 nach ihrer Entgiftung ins Come In kam, war sie 17 Jahre alt und am Ende.

Aus dem Wohnzimmer dringt Frauenlachen und aufgeregtes Geschnatter. Von der Wohnung aus sind es bis zur Alster nur ein paar Schritte. Es duftet nach frisch gebrühtem Kaffee und selbst gebackenem Apfelkuchen. Kerzenschein hüllt den Raum in ein warmes gelbes Licht. Weihnachtliche Vorfreude ist spürbar. Auf dem großen runden Esstisch liegen Berge von Plüschtieren, bunte Rollen Geschenkpapier und Schleifenband in Gold und Silber. Die Frauen haben sich zum alljährlichen Geschenkeeinpacken versammelt, für die Kids des Come In. "Licht im Schatten" heißt der Verein, in dem sich die 16 Hamburgerinnen für suchtkranke Kinder engagieren. Sie zahlen Ausbildungen, Kunsttherapie, Musikunterricht, Brillen, Zahnersatz und Nachhilfe. Sie kaufen Pflanzen, um gemeinsam mit den Jugendlichen das Gewächshaus wieder auf Vordermann zu bringen. Eine ganze Woche lang. Sie nehmen sich am Wochenende die Zeit, um mit ihnen zu backen und den großen Tisch im Aufenthaltsraum abzuschleifen und neu zu streichen. Und sie erfüllen Weihnachtswünsche. Jeder Come-In-Bewohner darf eine Wunschliste abgeben. Die Frauen teilen auf, wer was besorgen soll. Dann durchstöbern sie die Geschäfte, auf der Suche nach einem Harry-Potter-Buch, Kapuzenpullovern, Schal oder Mütze. Nun liegen die Geschenke verstreut auf dem Boden und warten auf Verpackung.

"Die Frauen kommen gar nicht so hochnäsig rüber, wie ich zuerst dachte", sagt Johannes. Ein Kompliment. "Sie zeigen Interesse und nehmen einen ernst." Eine Erfahrung, die er nicht oft gemacht hat in seinem Leben. Er blickt ernst durch die Gläser seiner modernen Brille. Er lächelt selten. Ein wenig blass und jungenhaft sieht er aus. Die schwarzen Haare hat er sorgfältig nach oben gestylt. Er sieht nett aus. Nicht wie ein Schläger. Doch manchmal weiß er sich nur mit Gewalt zu helfen. Zum Beispiel als sein Stiefvater ihm die Nase brach. Da ging Johannes mit einem Baseballschläger auf ihn los. Die Mutter schmiss ihn danach raus. Da war er 16 Jahre alt. Sein leiblicher Vater, Hauptwachtmeister beim Bundesgrenzschutz, hat längst eine andere Familie. "Für den bin ich das schwarze Schaf", sagt Johannes bitter. "Im Gegensatz zu meinem Halbbruder, der immer alles richtig macht." Schon als Kind fühlte er sich alleingelassen.

Mit elf Jahren begann er zu rauchen. Mit dreizehn trinkt er regelmäßig Alkohol, das war, als er für zwei Jahre ins Heim musste. Mit vierzehn fing er an zu kiffen. Dann kam Speed dazu. Johannes nennt es Pep. Er kannte alle Dealer in seinem Heimatstädtchen nahe Berlin. Sein Vorstrafenregister ist lang: Körperverletzungen, Diebstähle, Raub, Sachbeschädigungen. Einmal zündete er die Lagerhalle einer insolvent gegangenen Firma an. Die Anklage wurde fallen gelassen. Trotz allem schafft er seinen Hauptschulabschluss und beendete das Berufsvorbereitungsjahr mit Note 1,3. Dann wird er selbst Vater und das Jugendgericht stellt ihn vor die Wahl: Therapie oder Besuchsverbot. Die Mutter des Kindes hatte ihn verlassen, weil er wieder zu trinken angefangen hatte. Ihren neuen Freund, hat er verprügelt. Nach neun Tagen Entgiftung kam er am 9. Juni ins Come In. Sein erster Gedanke, als er die weiße, denkmalgeschützte Villa am Moorfleeter Deich sieht: "Scheißladen!" Das ehemalige Ausflugslokal liegt am grünen Rand von Hamburg, an einem Elbarm. Was andere als Idylle bezeichnen würden, empfand der 18-Jährige als "dörflich" und das Haus aus der Gründerzeit als "vergammelt". "Ich wollte sofort wieder weg", sagt er. Doch er blieb.

Johannes ist noch in der ersten Phase, der medizinischen Rehabilitation. Die "klassische" Drogentherapie konzentriert sich auf die Behandlung der Abhängigkeit. Sein Tagesablauf ist streng geplant: sechs Uhr morgens aufstehen. Morgenspaziergang, Putzen. Freitagvormittag Therapie, nachmittags Rap-, Mal-, oder Sport-AG. Freizeit aktiv gestalten. Auch Teil der Therapie. Malen liegt ihm besonders. Draußen war er Sprayer. Hier darf er legal Graffitis sprühen. Dienstag bis Donnerstag macht Johannes ein Praktikum in der Tischlereiwerkstatt Touch, wo er Karten für Blinde und Sehgeschädigte hergestellt. Die Wörter "du" und "keiner" kann er schon ertasten. In der zweiten Phase seiner Therapie möchte er eine Lehre beginnen als Koch oder als Maler. Lieber letzteres. Dann könnte er später als Grafik- oder Bühnendesigner arbeiten und seinem Vater beweisen, dass er mehr drauf hat, als Drogen zu nehmen.

Auch Charlotte hat Pläne. Sie befindet sich bereits in der zweiten Phase - Reintegration. Ein wichtiger Schritt in die Selbstständigkeit. Sie ist dabei, den Realschulabschluss an einer Schule für Sozialpädagogik zu machen. Den braucht sie, um später Sozialpädagogik studieren zu können. Sie möchte dann in der Drogentherapie arbeiten. "Und Menschen da raus helfen, wo ich selber war", sagt Charlotte. Viele Mitarbeiter im Come In waren selbst abhängig. "Mit denen kann ich am besten reden."

Einmal im Monat fährt sie zu ihrer Mutter, Weihnachten wieder. Ihre Augen leuchten, wenn sie von der Mutter und dem kleinen Bruder spricht. Auf den Zehnjährigen ist sie sehr stolz. Zum Vater hat sie keinen Kontakt. Bis zum Juni 2009 wird sie noch im Come In bleiben. 24 Monate, das ist die maximale Zeit. Nicht jeder muss so lange hier sein. Die Jugendlichen können später noch in die Nachbetreuung vermittelt werden.

Wenn man im Come In weit kommen will, muss man sich von seiner Vergangenheit, seinem bisherigen Leben lösen. Mit dem räumlichen Abstand kommt die Einsicht: "Das waren falsche Freunde." Aber das dauert. Viele halten nicht so lange durch. Als Charlotte ins Come In kam, traf sie eine Bekannte aus Berlin hier. Sie hatten sich Silvester 2006/2007 in der Psychiatrie kennengelernt und danach aus den Augen verloren. Die hat es nicht ausgehalten und die Therapie abgebrochen. Das war hart für Charlotte. "Es ist schwer, wenn die Menschen, die man mag, einfach abhauen", sagt sie und schüttelt nachdenklich den Kopf. Nicht jeder hat ihre Stärke. Klar, die Angst, das Gewohnte hinter sich zu lassen und Neues zu beginnen, kennt sie auch. Aber im Gegensatz zu ihrer Freundin hat sie verstanden, dass es ums Überleben geht.

Viele laufen weg. Die Türen des Come In stehen offen. Jedem ist es selbst überlassen, ob er bleibt oder geht. Manche kommen wieder. Dann werden alle Bewohner des Hauses mit einem Gongschlag zusammengerufen, um gemeinsam zu entscheiden, ob der Rückkehrer wieder aufgenommen werden soll. Lange können die Plätze nicht freigehalten werden. Doch auch diejenigen, die abhauen, profitieren, weil sich beispielsweise etwas in ihrer Denkweise verändert hat. Manche schaffen es dann auch auf anderem Weg aus der Drogenhölle.

"Das Durchhalten ist nicht das Schlimmste", sagt Johannes. Und die Kontaktsperre. Gerade an Weihnachten, das er immer mit seiner Mutter gefeiert hat. Zwei Briefe durfte er schreiben. Beide an seine Mutter. Mit seinem Stiefvater versteht er sich wieder besser. Durch den Abstand. Über Vergangenes sprechen sie nicht mehr. "Das ist vergeben und vergessen", sagt Johannes.

Die Weihnachtszeit macht ihm zu schaffen. Er ist schnell auf 180. "Die Gefühle gehen mit mir durch", sagt er. Den meisten geht es so. 2007 war das Come In Anfang Dezember mit 30 Klienten voll belegt. Ende des Monats waren es nur noch 17. Der Rest ist abgehauen. Aber Johannes glaubt, er wird es aushalten. Er hat einen Rapsong geschrieben, über sein Leben. Den will er auf der Weihnachtsfeier im Come In aufführen. Auch für die Frauen von "Licht im Schatten".

Die haben derweil alle Geschenke verpackt. Das Set mit den Pflegeprodukten für Charlotte und die schwarze Trainingshose mit den weißen Streifen für Johannes. So wie es auf ihren Wunschzetteln stand. Eine Flasche Sekt wird geöffnet, ein Schlückchen zum Abschied. In ein paar Tagen wird sich die lustige Damenrunde wieder sehen. Zur Weihnachtsfeier im Come In. Dann werden wieder zwei Welten aufeinandertreffen, die scheinbar nichts gemein haben. Aber eben nur scheinbar.


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