Die Insel im nördlichen Atlantik ist bankrott. Die Finanzkrise trifft Island, das seinen Wohlstand gepumpt hatte, besonders hart. Wie die Isländer mit der drohenden Katastrophe umgehen - und warum sie nicht den Mut verlieren.

Die besten Dinge im Leben kosten nichts, sagt die blonde Frau in die Kamera und lächelt freundlich. Das wäre jetzt nichts so Besonderes und klänge beinahe schon hohl, wenn sie es nicht auf Isländisch täte. Island nämlich ist das Land, in dem man derzeit ganz besonders erpicht auf Dinge ist, die nichts kosten. "Eine Umarmung zum Beispiel ist unbezahlbar - aber sie kostet kein Geld", sagt Sigridur Gudlaugsdottir noch. Und dann springen ihr zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, in die weit ausgebreiteten Arme. Mit dieser Form von Alltagsidylle versuchen die Isländer sich Mut zuzusprechen. In den Wochen nach dem Bankrott von Banken wie Landsbanki, Straumur, Kaupthing und Glitnir, bei denen übrigens auch etwa 30 000 Deutsche ihr Geld in den besten Händen wähnten, und wo jetzt kein Geld mehr zu holen ist. Das isländische Sicherungssystem greift, was aber lediglich bedeutet, dass im besten aller Fälle knapp 21 000 Euro zurückgezahlt werden können.

Geld ist nicht alles. Mit dieser Botschaft wenden sich die ehemalige Miss Wonderland, Sigridur Gudlaugsdottir, und ihre siebenjährigen Zwillinge in einem Fernsehspot an ihr Land. Ein Land, das, wenn man es einmal salopp formuliert, den Russen gehört, weil die finanzkräftig mit Krediten einspringen. Eine Insel weit draußen an der Peripherie Europas, plötzlich zum Zentrum der Finanzkrise geworden - das ist Island.

Hier kennt fast jeder jeden, zumindest um ein paar Ecken, erzählt Gudlaugsdottir. Bei ungefähr 313 000 Einwohnern, von denen etwa 196 000 im Großraum Reykjavík leben, entsteht ein vollkommen anderes Zusammengehörigkeitsgefühl, als das in anderen Staaten erkennbar wäre. Weil die Schicksale eng miteinander verknüpft sind, betrifft die Krise alle Isländer. Keiner kann sich ihrem Sog entziehen, auch weil eine Massenarbeitslosigkeit prognostiziert wird.

Nur deshalb kann ein solcher Fernsehspot, wie ihn die alleinerziehende Mutter - gemeinsam mit 30 weiteren Isländern - gedreht hat, verfangen. Zusammenhalten, Beten, Hoffen, nicht den Mut verlieren, und gegen die täglich wachsende Menge an Gerüchten anglauben. Dass es bald nichts mehr zu essen gäbe, wird jetzt auch schon gemunkelt. Viele Isländer beginnen bereits mit Hamsterkäufen. Dass Banker beschimpft und bedroht, ja sogar angegriffen werden. "Einfach unglaublich", sagt Sigridur Gudlaugsdottir "wir sind doch ein zivilisiertes Land!" Eine Gruppe von Menschen soll vor dem Parlament die Flagge der Bank Landsbanki verbrannt und die Absetzung des Regierungschefs verlangt haben.

Das Land ist quasi bankrott, Aussichten: trübe. Die Staatsschulden könnten im kommenden Jahr mehr als 100 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts betragen. Und das, wo die Isländer so stolz waren auf ihre Vorzeigeinsel - mit dem gleichmäßig verteilten Wohlstand, einem hohen Bildungsniveau, dem Bauboom, der Rolle als "liberalistisches Wunderland", wie das "Wall Street Journal" titelte. Die Arbeitslosenquote lag mehr oder weniger bei null, Industrien siedelten sich an, wegen der hohen Zinsen kam Geld aus dem Ausland. Alles war gut. Die satten Jahre sind vorbei.

"Wir fühlen uns, als hätte uns jemand unserer strahlenden Zukunft beraubt", sagt Sigridur Gudlaugsdottir. Sie ist heute 42 und lebt mit ihren Zwillingen allein. Das bedeutete in Deutschland ein Armutsrisiko. In Island führt sie bis jetzt ein Leben wie aus dem Bilderbuch. Sommerurlaub in der Toskana, ein Mittelklassewagen in der Garage, im Garten hinter ihrem Haus bei Reykjavík tobt ein Schnauzer-Welpe durch den Schnee.

Sigridur Gudlaugsdottir sitzt an einem langen Holztisch in ihrer Wohnküche, vor ihr ein weißer Laptop. Die Küche glänzt in Weiß und Edelstahl, den dunklen Parkettboden hat sie vor dem Einzug im Sommer 2006 selbst gelegt. Über den Flachbildfernseher flackern lokale Nachrichten. Sie verkünden beunruhigende Dinge, erzählen von geplatzten Krediten, gesperrten Konten, Entlassungen und Insolvenzen.

In einer besonders düsteren Stunde Anfang Oktober hatte Islands Ministerpräsident Geir H. Haarde in einer TV-Ansprache vor dem Staatsbankrott gewarnt. Seitdem gibt es viel Verwirrung. Das jetzt sei der Anfang vom Ende, heißt es, oder auch: alles gar nicht so schlimm. "Die Menschen gehen sehr unterschiedlich mit dem Gefühl der Bedrohung um", sagt Gudlaugsdottir. "Die einen schreien ihren Ärger heraus, die anderen stecken ihre Energie in die Suche nach Auswegen."

Das Telefon klingelt, die Mutter ist dran. Seit drei Wochen macht sie Urlaub in Florida, zum Golfspielen. Kurz nachdem die drei größten Banken des Landes, Glitnir, Landsbanki und Kaupthing, verstaatlicht wurden, ist sie abgereist - "es bringt ja nichts, alle Pläne über den Haufen zu werfen". Auch eine Möglichkeit, mit Angst umzugehen. Die man - bei einem Blick auf die Zahlen - haben kann: Die isländischen Privathaushalte sind im Durchschnitt mit 213 Prozent beliehen (zum Vergleich: In den USA sind es 140 Prozent).

Sigridur Gudlaugsdottir überbringt ihrer Mutter die Neuigkeiten von zu Hause, es sind keine guten. Ihr Sohn Andri hat Albträume, Tochter Berglind drückt ihre Verlustängste in hysterischer Sorge um ihren Welpen aus. Der eine Bekannte hat seinen Job verloren, der andere all seine Ersparnisse, der nächste muss sein Haus verkaufen, der Nachbarsjunge wartet seit Wochen im Ausland verzweifelt auf seinen Studentenkredit und bekommt an den Automaten kein Bargeld mehr.

Auch Sigridur Gudlaugsdottir hatte einen Kredit aufgenommen, um in der Umgebung von Reykjavík ein Haus zu kaufen. Monatelang musste sie suchen, um eines der begehrten Domizile in Gardabaer zu ergattern - jetzt stehen viele in der Nachbarschaft zum Verkauf. Sie selbst weiß auch noch nicht, ob sie das Haus halten kann. Ihren Kredit hat sie in fünf verschiedenen Währungen aufgenommen - um das Risiko zu streuen und der Inflation vorzubeugen. Eine fatale Entscheidung, wie sich jetzt herausstellt, da die Krone mehr als die Hälfte ihres Werts verloren hat. Jetzt hat sich Gudlaugsdottirs monatliche Rate mehr als verdoppelt. "Wie viel ich genau zahlen müsste, habe ich nicht nachgeguckt - ich will es gar nicht wissen", sagt sie. So manches Ehepaar in ihrem Bekanntenkreis erwägt aus ähnlichen Gründen sogar, sich scheiden zu lassen. Wenn der eine Partner den Kredit übernimmt und Privatinsolvenz anmeldet, kann der andere einen Neustart wagen. Um solche sozialen Verwerfungen zu verhindern und den Betroffenen zu helfen, hat die Regierung die Banken aufgefordert, die Monatsraten ihrer Kunden für sechs Monate auszusetzen. Gudlaugsdottir: "Zurzeit zahle ich nur die Zinsen für den Kredit - und bete, dass sich die Krone in den nächsten Monaten wieder erholt."

Beten und hoffen - das ist alles, was die Isländer zurzeit tun können. Beten, dass ihre Regierung vom Ausland Kredite erhält, die den Sturzflug der Wirtschaft aufhalten. Hoffen, dass es bis dahin gelingt, den nationalen Ausverkauf an ausländische Investoren zu verhindern. Beten, dass nicht noch Kinder und Enkel für den wirtschaftlichen Schaden bezahlen werden. Hoffen, dass vom gewohnten Leben nicht zu viel wegfällt.

Und die Isländer sind gut im Hoffen. "Wir sind Naturkatastrophen gewöhnt, jetzt haben wir es eben mit einer mathematischen Katastrophe zu tun", sagt der Autor Andri Snaer Magnason. Auch Sängerin Björk plädiert öffentlich dafür, gemeinsam Auswege zu finden. Was den Isländern hilft, ist ihr Pragmatismus: Anpacken und nicht bange machen lassen - so lautet die Devise.

Der Tourismusbranche ist es bereits gelungen, die Krise zu nutzen: Die Pleite-Insel sei ein "Supersparziel fürs Weihnachts-Shopping", verkündet der Direktor des Fremdenverkehrsamts, David Johansson. Er freut sich über 60 Prozent mehr Buchungen als im Vorjahr.