In dem Küstendorf Iltara wütete 2007 Hurrikan Felix. Er nahm den Bewohnern alles. Langsam lernen sie wieder zu lachen.

Felix brachte kein Glück. Zwölf Stunden blieb er in Iltara. Als er das Dorf verließ, stand kaum noch ein Haus. Felix trug das Hab und Gut der Menschen in alle Richtungen, begrub Felder unter Schlammlawinen, entwurzelte Bäume und tötete. Der Hurrikan, dessen Name "der Glückliche" bedeutet, verwüstete im vergangenen Jahr den 400-Einwohner-Ort an der Karibikküste Nicaraguas.

Auch heute, da Felix längst aus den Schlagzeilen verschwunden und die Öffentlichkeit sich anderen Dingen zugewandt hat, prägen seine Spuren das Alltagsleben der Überlebenden. Ein Grund, nach Nicaragua zu reisen und nachzuschauen.

Während der Hurrikan über das Land tobte, harrte Anna in der Kirche aus. Dem einzigen Gebäude aus Stein, in dem die Frauen, Kinder, Alten und Kranken Zuflucht fanden. Plötzlich verdunkelte sich der Himmel, sagt die Zehnjährige, und bei der Erinnerung wirkt ihr schmales Gesicht ängstlich: "Die Männer drängten uns, in die Kirche zu gehen." Zwölf Stunden saßen sie dort, dicht an dicht. Anna hielt die Hand ihrer Mutter, während der Sturm am Kirchendach rüttelte, Regen aufs Wellblech trommelte, als wollte er dieses durchbohren. Bis schließlich eine Bö das Dach erfasste und mit sich riss. "Alle haben geschrien", erinnert sich Anna. Der Regen prasselte auf die Menschen in der Kirche. Äste, Töpfe, Holzplanken, Matratzen wurden vom Sturm in den Kirchenraum gefegt. Sie hatte furchtbare Angst, sagt Anna: "Ich dachte, ich muss sterben." Als der Sturm nachließ, die Männer ihre Familien aus der Kirche holten, sanken viele auf die Knie - und weinten. Annas Familie hatte alles verloren, ihr Haus, den ganzen Besitz, erzählt das zierliche Mädchen. "Uns blieben nur noch die Kleider, die wir anhatten."

Ein Jahr nach der Katastrophe ist das Haus von Annas Familie wieder aufgebaut. Eine schiefe Holzhütte, die auf Stelzen steht, damit keine Tiere ins Haus kommen. Noch haben sie kein Dach, wie so viele im Ort. Eine Plane ist über die Hütte gespannt. Sie war das Notzelt, unter dem die Familie in den ersten Monaten schlief, bis genug Holz gesammelt war, um die Hütte wieder aufzubauen. Vor der Einraum-Hütte stehen noch die Pfeiler vom alten Haus. "Das ist alles, was der Sturm uns gelassen hat", sagt Annas Mutter. Sie macht eine lange Pause, zwinkert mit den Augen, knetet die Hand ihrer Tochter. Wenigstens hat die Familie überlebt, sagt sie dann. Eine Freundin hat zwei ihrer Söhne verloren. Erschlagen von umherfliegenden Ästen. Eine Nachbarin trauert um ihren Mann: Der Fischer wurde in seinem Einbaum auf dem offenen Meer überrascht. Sein Leichnam wurde nie gefunden. Die Warnung erreichte die Menschen erst zwölf Stunden vorher über das betagte Funkgerät des Bürgermeisters. Der Wirbelsturm entwickelte sich binnen Stunden zu einem Hurrikan der höchsten Kategorie. Zehn Menschen kamen in dem kleinen Dorf ums Leben, sagt Annas Mutter. "Es ist ein Wunder, dass es nicht noch mehr waren."

Vorbei an Ziegen und Schweinen geht es für uns durch die Siedlung. Straßen gibt es nicht, nur Trampelpfade, die durch das braune Gras führen. Rote Bohnen trocknen auf einer Plane in der Sonne. Das ist alles, was von seiner Ernte geblieben ist, sagt ein Bauer. Vielleicht reicht es, ihn und seine sechsköpfige Familie die nächste Woche zu ernähren. Vielleicht auch nicht. Viele Familien leben noch immer in Notzelten. In den umliegenden Wäldern steht kaum noch ein Baum. Im Dorf das gleiche Bild: Immer wieder ragen umgeknickte Bäume in den Trampelpfad. Alle paar Meter stehen Holzpfeiler, die einmal Häuser trugen und nun Ersatzmaterial sind, um zerstörte Dächer und Wände zu flicken. Auch vor Juan Benitos Hütte ragen die Stelzen seines alten Hauses in die Luft. Der 86-Jährige und seine demenzkranke Frau waren die ersten, die eine neue Hütte bekamen. "Meine Frau ist schwer krank, sie hat es an der Lunge", sagt der Mann. So einen Hurrikan hatte er noch nie erlebt. Und er hat schon viele erlebt, oh ja! Doch Felix übertrifft sie alle. "Als der Sturm vorbeigezogen war und wir inmitten des Chaos saßen - wir wussten nicht, wie das Leben weitergehen soll."

Während er seine Frau, die in der Hängematte schläft, sorgfältig zudeckt und prüft, ob die Wäsche, die er am Dach zum Trocknen aufgehängt hat, bereits trocken ist, erzählt er, dass er bis vor fünf Jahren noch ein kleines Stück Land bewirtschaftete. Nun ist er zu alt, der Rücken macht nicht mehr mit. Einige Hühner hält er sich, die gackernd um den Besuch herumlaufen. Ihre Eier tauscht er gegen Lebensmittel. Ansonsten lebt das kinderlose Ehepaar von Spenden der Dorfbewohner. "Doch die haben seit dem Hurrikan selbst kaum genug zum Leben."

Der Bürgermeister kommt vorbei, drückt Juan Benito einen kleinen Sack Reis in die Hand. "Ich heiße Felix, so wie der Hurrikan", stellt er sich vor und erzählt von seinen Sorgen. Der Sturm hat nicht nur den Großteil der Ernte vernichtet sondern auch das Saatgut. "Ohne die Hilfsorganisationen wären wir nicht mehr am Leben."

Die Katastrophenhilfe kam zwei Tage nach dem Hurrikan. Die abgelegenen Dörfer waren schlecht zu erreichen. Der Wirbelsturm hatte Brücken und Schotterstraßen zerstört, Bäume in den Weg gelegt. In diesen zwei Tagen versuchten die Dorfbewohner einen Neuanfang, begannen mit den Aufräumarbeiten, retteten, was zu retten war. Doch es galt vor allem, das eigene Leben zu bewahren. Die Hilfsorganisationen brachten Notpakete. Bohnen, Reis, Planen, Decken, Töpfe, Taschenlampen und Medikamente. Von der Regierung gab es kaum Hilfe, sagt der Bürgermeister verbittert. Einen Sack Reis fürs ganze Dorf. Der war schnell verzehrt. Das Kinderhilfswerk Plan International baute die Schule wieder auf, ebenso die Dorflatrinen. Die Entwicklungshelfer wollen in der Region bleiben, den Menschen helfen, kommende Stürme besser zu überstehen. Nachhaltige Landwirtschaft und Biodünger sollen gegen den Hunger helfen. Sodass die Bewohner wieder ihre Ernte auf dem Markt in Bilwi, der drei Stunden Busfahrt entfernten Stadt, verkaufen können. So wie sie es vor dem Hurrikan taten. Der Handel war ihre Lebensgrundlage, sagt der Bürgermeister. "Wir waren seit einem Jahr nicht auf dem Markt - was sollen wir auch verkaufen, wir haben ja nicht einmal genug für uns." Vielleicht aber reicht es bald wieder, um das Schulgeld für die Kinder zu bezahlen.

Das Leben geht weiter. Irgendwie geht es immer weiter, sagt Juan Benito: "Die Kinder singen und spielen schon wieder. Auch wir Alten lernen wieder zu lachen." Zum Beweis legt er sein Gesicht in Tausende Lachfalten. Es ist ja schon ein wenig besser als vor einem Jahr. Aber eine Sorge hat Bürgermeister Felix: Die Kirche ist immer noch ohne Dach. Das versprochene Wellblechdach der Regierung ist noch nicht eingetroffen. "Doch was sollen wir ohne Dach machen? Die Kirche ist unser einziger Schutzraum."