Ich will als Frau leben - dieser Satz war der Anfang. Mike wusste plötzlich, dass er kein Mann sein möchte. Jahrelang war er gegen dieses Gefühl angegangen, bis er sich endlich operieren ließ. Heute heißt sie Denise. Und hofft, dass sie eines Tages ganz bei sich angekommen sein wird.

Noch nie habe ich so große Hände gesehen - so große Hände mit Nagellack. Ganz zart greift die rechte zu, als mich die Frau im roten Stretchkleid an ihrer Haustür in Schifferstadt in Rheinland-Pfalz begrüßt. "Hallo", sagt sie und lächelt, "ich bin Denise."

Ich versuche, unbefangen zu wirken. Denise soll nicht merken, dass es mich irritiert, dass sie vor sieben Jahren noch ein Mann war. Aber es gelingt mir nicht. Meine Augen gleiten in jeder unbeobachteten Sekunde über ihren Körper. Zu den glatt rasierten Beinen, den perfekt geformten Brüsten, dem sorgsam geschminkten Gesicht. Und eben zu diesen großen Händen.

So beginnt mein erstes Treffen mit Denise, der Transsexuellen, die früher Mike hieß. Ich will ein Portrait über die 42-Jährige schreiben, eine Doppelseite lang. Als ich Stunden später die Tür hinter mir schließe, den Block voller Notizen und den Kopf trotzdem noch voller Fragen, da ahne ich schon: Es wird nicht unser letztes Gespräch gewesen sein. Am Ende wurde ein Buch daraus.

Das Thema lässt mich nicht los. Eines Abends rufe ich Denise an. "Kannst du wirklich genauso weich sein, so fühlen, so denken, so Sex haben wie andere Frauen? Oder bleibst du am Ende doch nur ein kastrierter Mann?" Von da an telefonieren wir täglich. Und beginnen noch einmal ganz am Anfang.

"Anzeichen gab es schon früher dafür, dass ich im falschen Körper geboren bin", sagt Denise. Der kleine Mike will lange Haare, die Eltern schneiden sie kurz. Mike will als Rotkäppchen zum Fasching und muss als Cowboy gehen. Mike sucht in der Schule die Nähe der Mädchen, flüchtet aber beim ersten Liebesbrief. Dazu eine verworrene Familiengeschichte: Der Junge wächst abwechselnd bei der Mutter, im Heim und bei Oma auf. Landet irgendwann auf der Straße, wird missbraucht. Sucht Trost im Alkohol, kommt wieder los. Reist aus der DDR aus, macht eine Lehre als Krankenpfleger.

Das alles berichtet mir Denise am Telefon, Nacht für Nacht. Irgendwann sind wir bei dem Tag angekommen, an dem der junge Mike im Waschkeller seines Wohnheimes zwei Röcke findet, mit aufs Zimmer nimmt und vor dem Spiegel anprobiert - ein schönes, ein verwirrendes, ein erschreckendes Gefühl. "Eine Transe, ich?", denkt Mike, "das kann nicht sein. Bestimmt bin ich nur schwul."

Am Hörer begleite ich ihn durch die Clubs von Mannheim, wo er sich als Tänzer und DJ Bestätigung für seine These sucht. Er verliebt sich in viele Männer, im Bett klappte es nie. "Ich konnte mich nicht öffnen. Was stimmte nicht, was war mit mir los? Ich bin ins Fitnessstudio gerannt und habe mir die Muskeln aufgepumpt, um mir zu beweisen, dass ich kein Weichei bin." Denise mailt Fotos. Sie zeigen Mike mit Schnauzer. Mike als Tänzer. Mike als Unterwäschemodel. Ich scherze: "Hey, du sahst verdammt gut aus. Fast schade um dich als Mann." "Für mich nicht", bekomme ich als Antwort.

Mikes Sehnsucht wird irgendwann übermächtig. Tagsüber bettet er im Krankenhaus Patienten um, abends eilt er heim, zieht Röcke an, schlüpft unter Perücken, übt, mit Stöckelschuhen zu gehen. Das Doppelleben und die innere Zerrissenheit dauern drei Jahre an. Bis Mike ausspricht, was er in sich trägt: "Ich will als Frau leben, ich werde mich operieren lassen." Zuvor muss er ein Jahr lang öffentlich eine Frau sein, das Gesetz will es so. "Alltagstest" heißt das.

Ich habe Herzklopfen, als Denise erzählt, wie sie eines Tages völlig überschminkt und in Frauenkleidern zur Arbeit kommt und entgeistert angestarrt wird. Und einen Kloß im Hals, als sie berichtet, dass sich die Patienten plötzlich nicht mehr von ihr anfassen lassen wollen. Ich werde zornig, als ich höre, wie Kollegen auf dem Flur lästern und Freunde wegbleiben.

"Kaum einer versteht uns Transsexuelle richtig", seufzt Denise, "man müsste viel mehr aufklären." Ich antworte spontan: "Dann lass' uns unsere Telefonate aufschreiben. Wir machen ein Buch daraus!"

Denise jubelt, ich plane: Wir brauchen Weggefährten, die sich erinnern. Die Schulfreundin, die erzählt, warum Mike schon früher anders war. Die Mutter, die sagt, wie es ist, wenn aus dem Sohn eine Tochter wird. Den Psychotherapeuten, der erklärt, wie er die Diagnose stellte. Joseph, der sich vor der OP in Denise verliebte. Und die Chirurgin, die sie zur Frau machte.

Denise entbindet Ärzte von der Schweigepflicht, ich tauche tiefer in diese für mich völlig fremde Welt ein, lese psychologische Gutachten, lerne Denise immer neu kennen. Ein Berufsprivileg. Denise erzählt so freimütig wie noch nie, keine Frage ist ihr peinlich - nicht mal die zum Thema Sex. "Das geht wie bei jeder anderen Frau auch", sagt sie, "nur einen Höhepunkt hatte ich noch nicht."

Vielleicht bin ich längst eine Freundin für sie. Auch meine Wahrnehmung gegenüber Denise verändert sich. Am Anfang unserer Telefonate hatte ich oft den schwulen Kumpel am Hörer, mit dem ich über seine Musik und alten Liebeskummer rede. Später die praktische Hausfrau, mit der ich Stollenrezepte tausche. Heute sehe ich Denise nur noch als Mensch.

Denise und ich telefonieren immer noch. Aber manchmal, da mache ich mir Sorgen. Wenn sie sagt, dass sie die Zeit als DJ vermisst oder dass sie so komisch drauf ist. Wird sie die Kraft haben, ihr neues Leben zu leben? Wird sie die Heilpraktikerschule zu Ende machen, die sie neulich begonnen hat? Ganz kommen Transsexuelle nie bei sich an, hat ihr Psychologe mal gesagt.


"Telefonate mit Denise" (260 Seiten, 9,90 Euro) ist im Verlag Schwarzkopf und Schwarzkopf erschienen.