Es gibt viel zu wenige Uhrmacher in der Stadt - weltweit fehlen sogar 40 000. Um diesem Mangel zu begegnen, bilden die Meister der Uhrmacherschule in Farmsen Lehrlinge aus. Leise wird dort gearbeitet und mit viel Liebe zum Detail. Damit aus ein paar Schrauben und Rädern Schmuckstücke werden.

Unter dem weißen Uhrmacherkittel trägt Dominik Thurau ein schwarzes T-Shirt der Punk-Rocker Die Ärzte. Die blauen Latexhandschuhe sind etwas zu groß für seine Finger. Er öffnet seine Werkzeugtasche, eine Rolltasche mit mehreren gleichartigen Plastiketuis, in denen nadelspitze Uhrmacherpinzetten stecken, allesamt in weißes Seidenpapier gewickelt. Werkzeuge verpackt wie Schmuckstücke. Das vorsichtige Auswickeln erscheint wie eine Kulthandlung. Dann klemmt der 17-jährige Uhrmacherlehrling die dunkelgrüne Lupe ins rechte Auge, neigt den Kopf vor, die langen Haare fallen auf den Nasenrücken, und er widmet sich gelassen den winzigen Schräub- und Rädchen eines Uhrwerks. Berufsziel? "Meister machen ...", sagt er, und verkneift sich offenbar das: "Ist doch klar!"

Kann Uhrmachen Kult sein? Kann Uhrmachen cool sein. Offensichtlich: Ja!

Wer im Zweckbau der riesigen Schule G16 in Farmsen den langen Weg zu den Uhrmacherlehrlingen findet, den erwartet eine leise Welt von vorgestern; 32 Schüler im zweiten Lehrjahr, die mit Hingabe ans Uhrwerk gehen, sich in kleinen Gruppen beraten und sich weiterhin offensichtlich der Pflege der Freundlichkeit verschrieben haben. Beseelt vom Wunsch, den mechanischen Werken Leben einzuhauchen. Denn: "Nur eine mechanische Uhr kann leben", sagt Lehrer Rainer Schümann, "Batterieuhren nicht."

Eine Batterieuhr trägt hier kein Auszubildender mehr, auch wenn später diese von den meisten Kunden verlangt oder zum Service gebracht werden. "Nach einer gewissen Zeit an unserer Schule haben unsere Schüler bessere Uhren am Arm", sagt Gewerbelehrer Ralf Holsten. "Also Uhren mit besseren, mechanischen Werken, von den Eltern, den Großeltern, Ebay oder dem Uhrenflohmarkt." Dominik Thurau trägt eine mechanische "Longines". Auch die Lehrer tragen alle etwas Besseres ohne Batterie (von Rolex, Chronoswiss oder Nomos).

Ist das nun eine besondere Klasse? "Ja", sagt Ralf Holsten (Armbanduhr mit ETA 2824-Kaliber), "die Schüler dieser Klasse halten wirklich besonders gut zusammen; auch in der Freizeit; da haben sie zum Beispiel eine Sonnenuhr aus edlen Materialien, wie Marmor, gebaut, die bald vor der Schule aufgestellt wird."

Eine typische, leise Unterrichtsszene unter den 32 Schülern, die im zweiten Lehrjahr sind: Eine (von neun) Schülerinnen bittet Lehrer Holsten um Kritik zu einem Werkstück. Der beugt sich mit Lupe und Pinzette über das Uhrwerk als wolle er in den Tisch tauchen, wird bald umringt von anderen (meist hochgewachsenen) Schülern, die sich dazugesellen und hingegeben den Worten ihres Lehrers lauschen. "Nicht murkeln!", sagt er. Gemurkelt bedeutet für die Herren Uhrmacher wohl so etwas wie gemogelt oder gar zusammengeschustert. Also etwas völlig Undenkbares.

Später in der Pause berichtet Lehrer Holsten über das mechanische Uhrwerk ETA 2824 (hier Kaliber genannt): "Das ist ein sehr verbreitetes Schweizer Werk. Das müssen die Schüler im Schlaf zusammenbauen können. Wer das kann, hat gute Chancen - auch in andern Berufen." Hat dieser leise Unterrichtsstil Methode?

Lehrer Holsten: "Ja. Wir arbeiten darauf hin. Auf Kooperation. Denn es ist leider so, dass viele Schüler, die von der Hauptschule kommen, Lehrer als ihre Feinde betrachten. Es dauert, bis wir das abgebaut haben. Dann wollen die plötzlich lernen und sind infiziert."

Außerdem hätten die Lehrer die Ausbildung modernisiert. "Früher mussten die Lehrlinge zu Beginn monatelang am Schraubstock stehen und feilen, bis die Hände blutig waren. Heute geben wir ihnen gleich ein Uhrwerk in die Hand; am Anfang was Großes, dann Taschenuhren, später Armbanduhren", sagt Holsten.

Die Renaissance der mechanischen Uhren hat die Schule vor dem Aus bewahrt. Noch im Jahr 2002 gab es zu wenige Schüler. Nur sieben Bewerber für 25 Ausbildungsplätze. Heute sind es siebenmal so viele. Und es kann gesiebt werden. Denn neben einem "mindestens guten" Hauptschulabschluss sind Ruhe und Fingerfertigkeit gefragt. Auch gute Deutschnoten sind hilfreich, denn Deutsch ist Hauptfach an der Uhrmacherschule in Farmsen, einer Berufsfachschule, bei der die Ausbildung nach drei Jahren Vollzeitunterricht mit der Gesellenprüfung und der Mittleren Reife endet. "Die Gesellenprüfung trainieren wir mehrfach", sagt Lehrer Hans-Uwe Weyer. "Denn dann heißt es gegen die Uhr zu arbeiten. Sieben Stunden dauert die Prüfung. Da muss man sich die Zeit einteilen können."

Tausend Uhrmacher fehlen in Deutschland. Weltweit seien es sogar 40 000. "Heute findet ein Uhrmacher immer einen Arbeitsplatz", sagt Weyer; "er muss nur mobil sein." Die alte Zunft ist in Hamburg auch in anderen Branchen gefragt. Die Flugzeugindustrie, der Werkzeug- und Schiffbau suchen Uhrmacher.

Auch Nadine Klevenow (19) will hoch hinaus und vielleicht in eine andere Branche. "Der Traum ist es, erst mal den Meister zu machen." Und vielleicht dazu noch Goldschmiedin zu lernen. Jeder fünfte Schüler dieser Klasse möchte die Goldschmied-Ausbildung zusätzlich. Um dann einem erfolgreichen Beispiel zu folgen: Ein Absolvent der Uhrmacherschule ist Klaus Ohle, der an der Weidenallee eine kleine Werkstatt etabliert hat, in der auch eine Goldschmiedin arbeitet.

Auch Lehrling Sebastian Hatscher hat sich neu orientiert. Er ist 18 Jahre alt, trägt am Arm eine mechanische "Festina", hat ein gewinnendes, sommersprossiges Spitzbubenlächeln. "Eigentlich wollte ich ja Kfz-Mechaniker oder Tischler werden. Doch meine Mutter sagte: Probier doch mal Uhrmacher. Und ich muss sagen, das macht Spaß. Etwas zusammenzubauen, das dann wieder funktioniert, und herauszufinden, was kaputt war - seitdem das einmal geklappt hat, bin ich dabei." Hatscher hat eine aufwendige Reparatur auf dem Werktisch, einen alten Wecker aus der Verwandtschaft, der nicht mehr gut ging, weil alle Lager ausgeschlagen waren. Normalerweise lohnt die Reparatur nicht, doch dieser Wecker hat Hatschers Ehrgeiz geweckt. Nun ersetzt der 18-Jährige die Lager durch neue Messingbuchsen, die er an der Drehmaschine herstellt. "Wird wieder ein ganz feines Teil ...", sagt er.

Die Hamburger Uhrmacherschule wurde 1878 gegründet. Damals bedeuteten präzise Uhrwerke neue Welten, denn mit ihnen war die Gründung von Sternwarten (1821 in Altona) oder der Deutschen Seewarte (1876) möglich. Besonders Schiffschronometer waren gefragt, und die dänische Marine förderte in Altona die Uhrmacher. Die präzise Zeitmessung ermöglichte damals die Positionsbestimmung auf den Weltmeeren. Ein gigantischer Fortschritt.

Ganz hoch in den Uhrmacherhimmel möchte der hochbegabte Gereon Schlösser (19). Eine eigene Firma hat er schon gegründet, ein Patent schon angemeldet - und, worauf er besonders stolz ist, einen Arbeitsplatz bei Jaeger-LeCoultre im schweizerischen Vallee de Joux. Siebenmal hatte er dort angerufen, hat extra Französisch dafür gelernt. "Dann durfte ich anreisen und ein Praktikum machen", sagt er. Fünf Jaeger-LeCoultre-Werke musste Schlösser zerlegen und zusammenbauen. "Dann erhielt ich eine Arbeitsplatzzusage." Bevor es in die Schweiz geht, will er das Abitur machen. Berufsziel kann dann eigentlich nur Erfinder sein.

Auch im Lehrerzimmer dreht sich alles um die Zeitmessgeräte. Zwischen Uhrenzeitschriften, Urlaubserinnerungen, Fotos, Werkzeugtaschen, Lehrbüchern, Packungen mit den hier sehr beliebten Schokoladenkeksen liegen - alles wohlgeordnet - schon mal die neuesten Sammlerstücke der Lehrer zum Bestaunen. Und für die Antwort auf die Frage, warum Lehrer Schümann keine Omega mehr sondern eine Uhr von Rolex trägt, muss man viel Zeit mitbringen. Denn es folgen nicht nur Fachbelehrungen sondern auch leidenschaftliche Schilderungen von Schweizreisen.