Auf ein Neues! Am Sonntag wird in und um Wiesbaden gewählt. Zuletzt haben wir viel Skurriles aus dem dicht besiedelten Bundesland gehört. Wonach sich die Frage aufdrängt: Wie tickt der Hesse wirklich? Eine Analyse.

Beginnen wir, wie es sich gehört, mit dem Essen und Trinken, denn was der Mensch isst, das ist er auch. Und wo wäre das berechtigter als in der Hessen-Metropole Frankfurt am Main, wo es sogar, mitten im alten Kern, eine "Fressgass" gibt. Wo gäb's das sonst noch, in einer Welt- und Finanzstadt? Weltberühmt sind die Frankfurter Würstchen. In New York auf dem Broadway heißen sie "Franks"; man könnte fast sagen, sie hießen so, weil sie inzwischen von den Hamburgern verdrängt worden sind, die aber, im Unterschied zu den Frankfurtern, nichts mit Hamburg zu tun haben und inzwischen auch meist Big Mac heißen.

Die Frankfurter Würstchen stammen aus Frankfurt, denkt man. Und haben wurstmäßig gesehen gleiche Zwillinge in Wien. Aber warum heißen dann Wiener Würstchen in Wien Frankfurter Würstchen, wie umgekehrt Frankfurter Würstchen in Frankfurt Wiener Würstchen heißen? Und die eigentliche Frankfurter Wurst Rindswurst heißt. Hessische Verhältnisse!

Das kommt aber daher, dass in Wien einst, in fernen Kaisertagen, die Vermischung des Bräts nach Frankfurter Art verboten war, sodass man sie Frankfurter Metzgern und Verwurstern überließ.

In der Fressgass und in den Äppelwoi-Lokalen in Sachsenhausen isst man noch andere lokale, also hessische Spezialitäten, das Rindfleisch, gesotten mit der grünen Soße, die eine hessische Köstlichkeit ist, auch wenn sie in italienischen Restaurants zur Salsa verde mutiert: Frankfurt und seine grüne Soße gehören zusammen wie der Äppelwoi und der "Bembel" (ein taubenblaugrauer Steinkrug). Nur dass der Appelwoi nur in Sendungen wie dem "Blauen Bock" (der hessische Lebensfreude in die ARD-Welt ausstrahlte) so heißt. Und in der Touristikwerbung. Die Frankfurter, also Hessen, die sich selbst nie als Hessen bezeichnen, sondern eben als Frankfurter, nennen ihn "Äppler". Sie trinken ihn so gern, wie sie "Handkäs mit Musik" essen. Eine deftige Köstlichkeit, die einen Handkäse, also eine Art Harzer, mit Essig, Öl und Zwiebel angerichtet serviert. Er riecht kräftig, schmeckt deftig, rumort in dem Esser, macht also "Musik".

Ihm gehört in Hessen meine ganze Liebe. Ich mag ihn sehr, darf ihn aber nur essen, wenn ich von meiner Frau mindestens 100 Kilometer Luftlinie entfernt bin. Wegen der Zwiebeln und überhaupt. Dazu trinke ich Bier, notfalls auch einen Äppelwoi, Verzeihung: Äppler oder "Stöfsche" (Stoff). Am liebsten aber Wein, wozu ich sagen muss, dass die Hessen von sich behaupten, den besten Riesling Deutschlands anzubauen und zu keltern. Trotzdem gilt: "Ob Wein, Bier oder Äppler", wie die Hessen sagen, "Hauptsach s bassd durch dä Hals und machd schwindlisch."

Ah! Werden Sie sagen, ah, ich weiß! Die herrlichen Weine aus Rheinhessen! Und da liegen sie schon wieder daneben, denn Rheinhessen gehört nicht zu Hessen, obwohl es so hessisch heißt. Rheinhessen, nämlich die linksrheinischen Kreise Bingen, Mainz, Alzey und Worms, fiel nach der Neugründung Hessens durch die amerikanische Besatzungsarmee nach 1945 an ein anderes späteres Bundesland, an Rheinland-Pfalz.

So kommt es, dass sich an Frankfurt gleich zwei Landeshauptstädte drängen, die eigene hessische, nämlich Wiesbaden und die andere, rheinland-pfälzische, eben Mainz.

Für einen von weither Kommenden, also sagen wir: von Hamburg oder Berlin Angereisten ist schon die Geografie verwirrend. Man ist in Darmstadt in Hessen, in Mannheim in Baden-Württemberg, in Worms, wo Brünhilde und Kriemhild sich auf der Kirchentreppe so folgenschwer um den Vortritt stritten, ist man in Rheinland-Pfalz, im Odenwald, der übrigens ein Juwel an alten Burgen und Städten, herrlichen Dörfern und tiefen Wäldern ist, wo infolgedessen Siegfried von Hagen den Speer beim Trinken aus einer Quelle in den Rücken gestoßen bekam, in Hessen. Hier drängeln sich alle im Rhein-Main-Gebiet zusammen.

Und alle sprechen mehr oder weniger "Hessisch"; sie sprechen nicht, sie babbeln es. Und wer nicht lange genug dort gelebt hat, der wird die Anrainer an Rhein, Main Neckar nicht wirklich auseinanderhalten und auseinanderhören können. Auch hier herrschen hessische Verhältnisse. Und nur so viel ist sicher: Es gibt, wie in allen mitteldeutschen Dialekten, die Verwandlung von hartem "B" zu weichem "P". "Ch" wird "sch" gesprochen und "sch" - "ch". Goethe, der ein Frankfurter war, der ein Weimaraner werden sollte, lässt im "Faust" Gretchen zur heiligen Jungfrau beten: Ach neige/du Schmerzensreiche - das reimt sich auf Hessisch!

Dr. Heinrich Hoffmann, der Schöpfer des unsterblichen "Struwwelpeter" dichtet im Fliegenden Robert": Hui! Wie pfeift der Sturm und keucht / dass der Baum sich niederbeucht!" Schon der Titel Struwwelpeter mit den zwei W - herrlich hessisch. Goethe soll auf dem Sterbebett, laut hessischer Hörart, nicht "Mehr Licht!" als letzten Seufzer ausgestoßen haben, sondern er wollte "Mer licht hier schleschd!" (Man liegt hier schlecht!) sagen. Das ist pietätlos, aber hessisch.

Ich selbst bin mal als junger Journalist mit dem Auto und Stuttgarter Kennzeichen zur Buchmesse gefahren (die Buchmesse, von Leipzig zwangsgeerbt in DDR-Tagen, heute eine der Frankfurter Kulturinstitutionen) und wurde, als ich falsch parken wollte, von einem hessischen Polizisten angehesst: "Hawwe Sie in Schtugard keine Vekeszeischä (Verkehrszeichen)?" Hessisch, so viel steht fest, ist der entbeinteste deutsche Dialekt, nachdem alle knochenbildenden Konsonanten aufgeweicht oder rausgeschmissen werden.

Aber gehen wir, um uns die hessischen Verhältnisse klar oder besser: unklar zu machen, noch einmal in die Geschichte (phonetisch wohl: "Geschichschde") zurück. Frankfurt gehörte nicht zu Hessen. Es war Kaiserstadt, in der der "gewählte", besser: gekürte deutsche Kaiser gekrönt wurde. Der kleine Goethe hat die letzte Kaiserkrönung, wenn ich mich recht an das erinnere, woran er sich erinnert hat, noch erlebt, bevor der österreichische Kaiser auf seinen deutschen Titel verzichten musste, um österreichischer Kaiser bleiben zu können.

Goethe wurde in Darmstadt durch den Freund Merck zum Schöngeist und Dichter, in Wetzlar, also im Herzen Hessens, verliebte er sich in Charlotte, die mit einem Freund verlobt war. "Die Leiden des jungen Werther" konnten ihren Lauf nehmen. Am Reichskammergericht in Wetzlar, wo er als Lizensiat arbeitete, "abgebrochener Student" würden wir heute sagen. Der wohlhabende Vater hatte ihn zum Studienabschluss gedrängt, weil die Studiengebühren den wohlhabenden Papa in vier Jahren die Hälfte seines Vermögens gekostet hatten. Studiengebühren? Hessische Verhältnisse schon damals? Und ein Reichskammergericht hatte Wetzlar damals dank der Kaiserstadt Frankfurt, als höchste Instanz in dem in lauter kleine Fürstentümer, Bistümer, reichsfreie Städte und erbgeteilte Regionen zerfleckte Patchwork-Deutschland.

Ausgerechnet in Frankfurt, der Kaiserstadt, wurde im ersten demokratischen Parlament in der Paulskirche die deutsche Einheit 1848 vorausgeträumt und als kleine deutsche Einheit vorausgeplant. Dass sie so preußisch wurde, ist, unter anderem, auch eine Frage hessischer Erbfolgen. Hessen Homburg fiel an Preußen (die heutige Hauptstadt Wiesbaden damit auch). So kommt es, dass Preußens berühmtester Dramenheld, der Hamlet Brandenburgs, Kleists Prinz von Homburg, ein Hesse ist.

"Ab nach Kassel" heißt es in Hessen. Und das erinnert daran, dass die hessischen Duodezfürsten aus Geldmangel ihre Landeskinder als Soldaten in fremde Dienste verscherbelten. Wie der Prinz von Homburg, der in preußische Dienste ging, mit der Absicht, "alle Feinde Brandenburgs in den Staub" zu zwingen. Heute ist in Kassel die Documenta, in Wiesbaden, dem Kurbad des Kaisers und später der amerikanischen Besatzungsgeneräle, leben in schönster hessischer Kurumgebung die wilden politischen Gegner der "Hessischen Verhältnisse" in einer gutbürgerlichen pensionsglücklichen Beamtenstadt mit reichen Promenaden und einem Spielcasino (heute keine Besonderheit mehr). Die wohlhabenden Frankfurter und Banker, die es sich (noch!) leisten konnten, zogen in den freundlichsten Ort des Taunus.

Kaum zu glauben, dass hier in den 80er-Jahren der SPD-Ministerpräsident Holger Börner, mit den ersten "hessischen Verhältnissen" bedroht, ein Ministerpräsident ohne Mehrheit, seinen Gegnern mit der Dachlatte drohte, um schließlich einen Streetfighter in Turnschuhen zum ersten grünen Minister zu machen. Man hört aus Joschka Fischers Rede seine Frankfurter Zweitheimat. Marcel Reich-Ranicki erinnert sich an ihn noch wohlwollend als Frankfurter Taxifahrer, der ihn zur Buchmesse fuhr.

1945 hatten die amerikanischen Kriegssieger Frankfurt zu dem Zentrum auserkoren, ihre Hauptstadt für das in Besatzungszonen geteilte Deutschland zu werden. Denn, 1948, nach der Währungsreform, im vereinten Bizonesien, sollte Frankfurt zur Hauptstadt der Bundesrepublik reifen, das heutige hessische Rundfunk-Gebäude zum Parlament werden. Daraus wurde nichts, weil es den ersten deutschen Bundeskanzler, Konrad Adenauer, nach Bonn an den Rhein zog. In die Nähe seiner Rosenidylle Bad Honnef.

Er hatte wohl auch Angst vor der großstädtisch gärenden Atmosphäre Frankfurts, als Herd der spontanen Unruhe und dem heutigen Mainhattan, mit seinen Banktürmen, in dem damals die Studentenrevolte gegen die Hochhausneubauten und die Vergrößerung des Molochs Frankfurter Flughafen hochkochte. Hatte er recht? Heute ist Frankfurt das Zentrum der Euro-Hochfinanz, deren Börse; Roland Koch, der wieder auferstandene Ministerpräsident, der die Wahl wohl gewinnen wird, stammt aus Hessen, aus deren Politik- und Finanzwelt. Seine hessische Herkunft, die sich in seinem Juristenhochdeutsch dennoch sprachlich in Diphthongen und Zischlauten nicht ganz verleugnen lässt, ist ein Banker und Großstadtidiom. Seine abgeschlagene Konkurrentin, Andrea Ypsilanti, die uns eine neue hessisch-pfälzische Lebensregel eingebrockt hat, nämlich die, dass man nicht zweimal mit dem gleichen Kopf gegen die gleiche Wand rennen kann (Kurt Beck, benachbarter Pfälzer), wird uns, was das "Hessisch" anlangt, fehlen. Sie hätte es so gesagt: "Man gann nischt zweimal mit dem gleischen Kopf gegen die gleische Wand anrenne." Sie weiß das, obwohl sie nicht "Gümbel" heißt oder "Bembel". Sie ist, wie sie's unvergleichlich ausdrückte: "Der Sohn eines Rüsselsheimer Opelarbeiters." Das klingt nach Niebergall, nach seinem unvergleichlichen Darmstädter Theaterhelden: "Datterich!", dessen Mundart-Einsichten bleiben werden. Der große Theaterkritiker und Vorläufer des Frankfurter Literaturpapstes Marcel Reich-Ranicki hat es so gesagt: "Hessisch-Darmstädtisch-Frankfurterisch ist für mein Gefühl ein unwiderstehliches, drolliges, kostbares Platt ...Redet, wie man reden soll - und werdet unsterblich. Sprecht, wie zu sprechen ihr euch schämt, und ihr kommt ins Paradies!"