In Hamburg leben mehr als 3000 blinde Menschen. Damit sie Zugang zu Literatur bekommen, werden in der Blindenbücherei Romane und Krimis in die Punktschrift übersetzt. Der Franzose Louis Braille, ihr Erfinder, wäre in diesem Jahr 200 geworden.

Zeile um Zeile fährt Ivonne Lotze mit dem Finger über die kleinen erhabenen Punkte auf dem weißen Papier. Ihre rechte Hand huscht vorweg, die Finger der linken folgen in kurzem Abstand. Die blonden Locken fallen der zierlichen Frau ins Gesicht. Über ihrem violetten Rollkragenpullover trägt sie eine schwarze Steppweste. Motorengeräusch lässt sie aufhorchen. Sie legt den Roman "Die Tochter des Senators" von Eileen Goudge zur Seite. Das Postauto ist gerade vorgefahren.

Der Fahrer betritt die weiße alte Villa. Links und rechts trägt er große schwarze Versandtaschen. Er stellt das schwere Gepäck ab und schnappt sich ein paar Boxen, die am Eingang bereitstehen. Schon rollt das Auto wieder die Auffahrt runter und biegt in die Herbert-Weichmann-Straße ein. Hier, im Stadtteil Uhlenhorst, nahe der Alster, hat die Stiftung Centralbibliothek für Blinde ihren Sitz. Die Bücher in Brailleschrift, die hier ausgeliehen werden können, werden hier auch produziert.

Elke Dittmer sitzt an ihrem Schreibtisch in der ersten Etage. Sie trägt das Haar kurz und eine moderne Brille. In den Händen hält sie eine Broschüre über den Franzosen Louis Braille.

Der Erfinder der Blindenschrift wäre am 4. Januar 200 Jahre alt geworden. Das wird gefeiert. Mit verschiedenen Aktionen, wie der "Tour de Braille", einem bundesweiten Lesewettbewerb für Blinde. Dass dies überhaupt möglich ist, ist einzig Louis Brailles Punktschrift zu verdanken. "Wie bei einem Würfel besteht die Grundform der Brailleschrift aus einer Anordnung von sechs Punkten", erklärt Elke Dittmer dessen Prinzip. Sie weiß, wovon sie spricht. Sie ist seit 1989 Geschäftsführerin der Stiftung Centralbibliothek für Blinde. Dazu gehört auch die Norddeutsche Blindenhörbücherei, die im gleichen Haus untergebracht ist. "Sechs erhabene Punkte - die perfekte Größe für eine durchschnittliche Fingerkuppe." Mehr können von den Rezeptoren nicht mehr voneinander unterschieden werden.

Mit dieser Grundform sind 63 Kombinationen möglich. Der Buchstabe A entspricht dem Punkt oben rechts, B sind zwei untereinander stehende Punkte auf der linken Seite, C zwei nebeneinander liegende in der oberen Reihe. Jeder Buchstabe, jede Zahl und jedes Satzzeichen werden so übersetzt. "Nur Großbuchstaben gibt es nicht", sagt Dittmer, die für achtzehn feste Mitarbeiter verantwortlich ist.

Eine von ihnen ist Ivonne Lotze. Die 37-Jährige arbeitet seit mehr als acht Jahren im Versand der Hamburger Blindenbücherei. In den Beruf ist die reiselustige Frau mehr oder weniger "reingerutscht". Denn eigentlich ist sie gelernte Masseurin. Vor elf Jahren zog sie dann von Heligenstadt in Thüringen nach Hamburg-Billstedt.

Sie ist seit ihrer Geburt blind und ein richtiger Brailleschrift-Fan, wie sie sagt. Wenn es nach ihr ginge, sollten alle Lebensmittel, Kosmetikartikel und Medikamentenpackungen mit ihr versehen werden. Dann wäre sie beim Einkauf nicht auf fremde Hilfe angewiesen. "Und ich müsste zu Hause nicht alles selbst beschriften", sagt sie. Das macht sie mit einer Schreibtafel und einem Griffel. Sie sticht die Buchstaben Punkt für Punkt in ein stabiles Papier - spiegelverkehrt, denn beim Lesen fühlt sie ja nur die erhabenen Punkte. Die Tafel gibt es in verschiedenen Größen. Sie ist quasi der Kugelschreiber der Blinden.

Warum lesen, wenn es Hörbücher gibt? Diese Frage hört Ivonne Lotze immer wieder. "Warum lesen Sie denn?", möchte sie dann manchmal mit einer Gegenfrage antworten. Mal davon abgesehen, dass Hörbücher Lektüre nicht ersetzen können, muss sich Ivonne Lotze immer auf ihr Gehör verlassen. Geräusche nimmt sie viel intensiver wahr als Sehende. Wie herrlich muss es sein, dann in aller Ruhe mal ein Buch lesen zu können. Und aus diesem Grund werden Bücher wie "Die Tochter des Senators" von Eileen Goudge in der Stiftung Centralbibliothek für Blinde in Punktschrift übertragen.

Dies geschieht auf unterschiedliche Art und Weise, zum Beispiel auf einer Punktschriftmaschine. Äußerlich ähnelt sie einer herkömmlichen Schreibmaschine. Doch sie hat nur sechs Schreibtasten, plus einer Leertaste und zwei Funktionstasten. "Jedem Punkt ist eine Taste zugeordnet", sagt Ivonne Lotze und fängt an zu tippen. Dabei drückt sie mehrere Tasten gleichzeitig. Blitzschnell. Klack, klack, klack, klack. Eine gelernte Sekretärin wäre mit Steno nicht viel schneller.

Genau genommen benutzt Ivonne Lotze ja auch eine Kurzschrift. In der sind alle Bücher verfasst, um einerseits die Schreib- und Lesegeschwindigkeit zu erhöhen und andererseits den Umfang der Blindenschrifttexte zu reduzieren. Bei dieser verkürzten Schrift werden ganze Wörter oder Teile von Wörtern durch ein oder zwei Blindenschriftzeichen wiedergegeben. Einige Zeichen haben in der Kurzschrift eine andere Bedeutung als in der Vollschrift. So steht der Buchstabe A, also ein Punkt rechts oben, für das Wort "aber". Der Silbe "en" wird hingegen mit zwei nebeneinanderliegenden Punkten, wie beim Buchstaben C, wiedergeben.

Zeitschriften, die sich stark sehbehinderte und blinde Menschen hier auch ausleihen können, sind in Blindenkurzschrift geschrieben. Das Beste aus dem Magazin "Reader's Digest" erscheint zum Beispiel monatlich. Ebenso "Das Büro", Fachzeitschrift für Blinde und Sehbehinderte in Büroberufen und "Rita", die Frauenzeitschrift des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes. Alle zwei Wochen erscheien auch ausgewählte Artikel der Wochenblätter "Stern" und "Zeit".

Neben dem Angebot an Zeitschriften sind außerdem mehr als 12 000 Buchtitel in Brailleschrift im Computer-Netzwerk gespeichert. Die sind nicht alle auf der Punktschriftmaschine entstanden.

Die moderne Technik steht im zweiten Stock, neben einem Regal, das bis unter die Decke vollgepackt ist mit Krimis und Romanen. Elke Dittmer zeigt sie nicht ohne Stolz, die "Braillo Norway Modell 200", einen Blindenschriftdrucker. Gescannte Buchseiten werden mittels eines speziellen Computerprogramms in Codes umgewandelt. Auf dem Bildschirm steht "13hvLit7atur" auf blauem Hintergrund. Das heißt "Verleih von Literatur". Der Code wird wiederum an einen Drucker weitergegeben, der ihn in Blindenschrift umwandelt. Dann stechen achtzig Nadeln koordiniert drauflos. Vierzig auf der Vorderseite des Papiers, vierzig auf der Rückseite. Der Drucker rattert und spuckt Seite um Seite aus. Die hauseigene Buchbinderin bringt sie später in Form. Zwischen die Seiten des sowieso schon dicken Papiers kommen Trennblätter, damit die Punktschrift nicht zerdrückt wird.

Darum können aus einem Buch schnell mal acht Leitzordner werden. Auch ein Grund, warum keiner der 800 registrierten Adressaten selbst vorbeikommt, um sich etwas auszuleihen. Wer möchte schon acht schwere Ordner durch die Gegend schleppen, weil er ein Buch lesen möchte? Und aus diesem Grund wird alles über den Postweg verschickt. Portofrei, denn die Deutsche Post erhebt für Blindensendungen keine Gebühren. Auch die Mitgliedschaft in der Bibliothek ist kostenlos. Schließlich soll Literatur und damit Wissen hochgradig sehbehinderten und blinden Menschen jederzeit und ohne Barrieren zugänglich sein. Gleiche Chancen für alle.

Barrierefrei bekommt noch einmal eine ganz eigene Bedeutung, wenn man Ivonne Lotze dabei beobachtet, wie sie durch die Flure der Bibliothek läuft. Sie tastet sich nicht vor, sie eilt durch die Gänge, geht von Regal zu Regal. Schließlich muss sie noch die Rücksendungen aus den Versandkoffern holen. Sie muss sich darauf verlassen können, dass nichts im Weg oder eine Tür offen steht. Sie ertastet die Buchrücken und sortiert jeden Band wieder an seinen Platz zurück. Ein Sehender würde sich hier nicht zurechtfinden.