Manche Menschen verlassen ihre Heimat, weil es unmöglich ist, zu bleiben. Andere zieht es in die Ferne auf der Suche nach einem unbestimmten Gefühl. Die einen finden Heimat in sich selbst, die anderen sehnen sich ein Leben lang nach der Stätte der Kindheit zurück. Fünf Menschen erzählen ihre Heimatgeschichte.

Mit schwerem Herz stapften sie durch die Dämmerung. Jeder Schritt knarrte unter ihnen im Schnee. Sie gingen langsam wegen der vielen Lagen Kleidung, die sie übereinandertrugen. Die eisige Kälte machte das Atmen schwer. Im Hintergrund hallte das Artilleriefeuer, es begleitete sie auf Schritt und Tritt. Wie schon seit vielen Monaten.

Der 10-jährige Jürgen drehte sich noch einmal um. Dort stand es: das Haus seiner Eltern. All seine Spielsachen, das Fahrrad, sein Bett, sein Zuhause. Nichts von alldem konnte er mitnehmen. Keiner wusste, wohin sie gingen, wo sie ankommen würden. Es war wie ein großes Abenteuer. Als würden sie im Wald Räuber und Gendarm spielen. Erinnerungen stiegen in dem Jungen hoch: Wie er mit Schlittschuhen auf den zugefrorenen Seen lief, wie es mittags aus der Küche roch. Er dachte an seine Schule, seine Freunde. Sollte das alles von nun an vorbei sein?

"Komm, Jürgen", hörte er seine Mutter sagen. "Wir müssen weiter." Er blickte sie an und sah die Tränen in ihren Augen. Auch seine ältere Schwester und seine Tante weinten. Er spürte die Angst, die sie verfolgte. Sie wussten, was ihnen bevorstand: Flucht. In den Westen. Weg von den Russen. Vor zwei Stunden erst hatte eine Verwandte ihnen gesagt, dass sie sich dem Treck anschließen könnten. Dann ging alles ganz schnell. Decken, warme Kleidung, die wichtigsten Papiere, Fotos und etwas Silberbesteck war alles, was sie eingepackt hatten. Keiner wusste, ob sie je wieder heimkehren würden.

Es war der 26. Januar 1945. Zwei Monate dauerte die Flucht. Das Schicksal führte sie nach Barmstedt im Kreis Pinneberg.

Heute, 64 Jahre später, spricht Jürgen Janke (74) gern über seine Heimat: "Ich liebe diese wunderschöne Natur. Die Wiesen sind grüner, der Himmel blauer und die Menschen sind gelassener. Sie sind nicht andauernd so gestresst wie viele hier."

Erst dreimal hat er seither die Gegend in Masuren im ehemaligen Ostpreußen besucht. Das erste Mal 1977. "Als ich durch meinen Heimatort Sensburg ging, konnte ich mich an alles erinnern: an die alte Kirche, die kleinen Straßen, die wunderschöne Seenlandschaft drum herum. Ich spürte eine innere Verbundenheit. Und ich wusste: Hier ist meine Heimat."

Dieses Gefühl des inneren Bandes kennt auch Bonny Ferrer. Wenn die 39-jährige Sängerin die Musik ihrer Heimat hört, überkommt sie eine innere Wärme. "Mir gehen diese Lieder sofort ins Blut. Sie berühren mein Herz, mein Innerstes. Ich erinnere mich dann an die Gerüche, das Essen, die Geräusche und die Lebensfreude der Menschen." Und dabei ist es ganz gleich, ob spanische oder afrikanische Klänge ertönen. Denn Bonnys Mutter ist Afrikanerin und ihr Vater Spanier. Ehe sie mit neun Jahren nach Hamburg kam, pendelten sie und ihre Familie zwischen Barcelona und Ghana. "In Deutschland fühle ich mich wohl, und ich lebe auch gerne hier, aber mein Herz schlägt für Spanien und Ghana. Mit meiner Musik versuche ich das zum Ausdruck zu bringen", sagt sie, während ihre dunkelbraunen Augen funkeln. "Wenn ich könnte, würde ich immer hin und her pendeln."

"Das sind zwei klassische Beispiele dafür, wie das Gefühl von Heimat entsteht", erklärt Sebastian Zenker (27) von der Respect Research Group an der Uni Hamburg. Der Wissenschaftler befasst sich intensiv mit den Themen Heimat und Wahlheimat. Seine Erklärung: Heimat ist Erinnerung. "Das Heimatgefühl entwickelt sich insbesondere durch positive Erinnerungen. Und da wir aus unserer Kindheit die meisten guten Erinnerungen haben, verbinden wir den Ort, an dem wir den größten Teil unserer Kindheit verbracht haben, mit unserer Heimat. Als Kinder wurden wir beschützt und waren sicher. Auch das Gefühl bleibt erhalten, und daraus wird ein Heimatgefühl."

Zudem ist Jürgen Janke und Bonny Ferrer eines gemein: Sie haben ihre Heimat nicht freiwillig verlassen. Sie mussten gehen. Und beide hatten nicht die Wahl, wo sie leben würden. Der Schriftsteller Horst Wolfram Geißler schrieb 1959 in einem seiner Romane: "Die Heimat ist ja nie schöner, als wenn man in der Fremde von ihr spricht." Bedeutet das, dass man seine Heimat also verlassen muss, um das Positive in ihr zu sehen? Vielleicht neigen wir sogar dazu, unsere Heimat zu verklären. Oder verblassen lediglich unsere Erinnerungen und blenden Negatives aus? Mag sein, dass es tatsächlich davon abhängt, ob wir freiwillig gegangen sind oder nicht. Denn es gibt genug Menschen, die aus eigenem Antrieb auswandern. Neugier und Fernweh treiben sie. Sie starten von Neuem. Manchmal bezeichnen sie dann mehrere Orte als ihre Heimat. Menschen wie Carmen Rohwer: "Meine Heimatstadt ist Hamburg und mein Heimatland Spanien", sagt die 29-jährige Halb-Spanierin. In Hamburg geboren und aufgewachsen, ging sie mit 21 Jahren nach Madrid. "Wenn ich in Hamburg bin, fühle ich mich sofort zu Hause. Nirgends sind die Spaziergänge schöner als an Elbe und Alster", sagt sie. Und doch: Mit der deutschen Kultur, den Menschen und dem Land identifiziert sie sich nicht. "Spanien ist mir vertrauter. Hier kenne ich mich aus. Ich mag die Kultur, die Menschen und fühle mich einfach heimisch. Ich liebe die Sprache, die Gastronomie, die Lebensweise und das Wetter." In Spanien fand sie die Heimat, die sie von Kindheit an durch ihre spanische Mutter und die Urlaube geprägt hat. Sie kannte beides und entschied sich bewusst für eines.

Ähnlich wie Luciano Gardenal. Auch den Italiener zog es mit Anfang 20 in die Ferne. Als er 1972 als Gastarbeiter zum ersten Mal nach Deutschland kam, ahnte er nicht, dass Hamburg seine Heimat werden könnte. "Erst vor etwa sieben Jahren habe ich meine Entscheidung getroffen, für immer hier zu bleiben", sagt er. "Als junger Mann dachte ich immer, ich würde irgendwann mit meiner Frau und den Kindern zurück nach Italien gehen. Aber der Zug ist abgefahren. Ich bin 59, meine Kinder sind erwachsen. Und auch Italien ist nicht mehr so wie damals, als ich es verlassen habe." Luciano Gardenal hat sich entschieden. Für seine neue Heimat Hamburg. In seinem Eiscafe in Barmbek plaudert er mit den Gästen gerne über deutsche Politik und aktuelle Geschehnisse. Seine lebensfrohe italienische Art macht ihn beliebt. "Natürlich hängt mein Herz in gewisser Weise an Italien. Ich bin Italiener. Ich werde immer wieder dahin reisen und meine Familie besuchen. Aber ich mag Deutschland, und ich denke mittlerweile deutsch. Meine Zukunft ist hier. Denn hier sind auch meine Frau, meine Kinder, meine Freunde, einfach mein ganzes Leben."

Auf die Suche nach einer neuen Heimat begab sich 1983 auch Anke Pharo. Die gebürtige Westfälin zog es damals gemeinsam mit ihrem jetzigen Ehemann nach Sydney in Australien. Sie sagt: "Ich habe mich in Deutschland nie richtig heimisch gefühlt. Ich habe irgendwie keine Verbindung zu dem Land und den Menschen." Sie wagte den Neuanfang - weit weg. Mit Erfolg. Ihr ist bewusst, dass sie viel Glück hatte. "Australien ist wunderschön. Hier ist viel Platz, um sich zu entfalten. Ich war erst 25, als ich hier ankam. Ich konnte mir hier mein Leben so herrichten, wie ich es wollte. Frei von gesellschaftlichen Zwängen oder Lasten." Ist Australien also ihre neue Heimat? "Nein, denn ich bin hier nicht aufgewachsen. Ich habe viele typisch deutsche Angewohnheiten und Tugenden", sagt die 50-Jährige. In ihren Worten steckt eine bewundernswerte innere Ruhe. "Ich würde eher sagen: Meine Heimat ist in mir. Ich war immer auf der Suche nach mir selbst, und jetzt bin ich angekommen." Sie ist verheiratet, hat zwei fast erwachsene Töchter, einen kleinen Bioladen und viele Freunde. Nur selten ist sie zu Besuch in dem Land ihrer Kindheit. In 25 Jahren nur fünfmal. Vermisst sie Deutschland manchmal? "Nicht wirklich. Ich finde Deutschland schön, aber es lag an mir. Ich habe da nicht hingepasst."

Müssen wir also zu unserer Heimat passen? Uns ihr vielleicht auch ein Stück weit anpassen? "In der Fremde spürt man meistens, dass man anders ist als die anderen", erklärt Sebastian Zenker. Das können ganz einfache Dinge sein, wie Essensgewohnheiten. Dann spüren wir, wo unsere Wurzeln liegen. Werte und Tugenden werden viel wichtiger. Sie geben uns das Gefühl von Zugehörigkeit, also Identifikation."

Es ist die Gesamtheit der Lebensumstände, in denen wir aufwachsen. Dadurch werden unsere Psyche und unsere Denkweise geprägt. Die Folge: Wir können unser Heimatgefühl weder beeinflussen noch lenken. Wir sind ihm in gewisser Weise ausgeliefert. Deshalb kann ein Ort, an dem man fast sein gesamtes Leben verbracht hat und viele schöne Momente erlebt hat, manchmal dennoch nicht zur Heimat werden. Erinnerungen allein reichen nicht aus. Wir müssen uns mit unserer Heimat identifizieren. Erst dann kann es auch unsere Heimat sein. "Ganz gleich, wo wir leben: Wir müssen nicht zwingend ein Heimatgefühl entwickeln, um dort glücklich zu sein", sagt Zenker. "Wir müssen unsere Heimat schließlich nicht aufgeben." Und doch beschränkt sich Heimat nicht auf einen Ort. Sie ist mehr ein Gefühl in uns. Eine innere Wärme, Glückseligkeit. Wie ein tiefer Seufzer, der in uns ertönt. Heimat kann eine Kultur, eine Sprache, gar eine Religion oder bloß Musik sein. Jedenfalls lässt sie uns nur schwer los und hält wahrscheinlich ewig an.

So wie bei Jürgen Janke. Masuren gehört zwar heute zu Polen, aber ein starkes Gefühl von Heimat gibt es ihm noch immer. Auch wenn er nie die Wahl hatte, sich seine Heimat nicht aussuchen konnte, so hat er sie dennoch nicht verloren. Sie ist tief in seinem Herzen verankert. Wenn er heute sein Leben im Rückblick betrachtet, stellt er fest: "Vielleicht habe ich mich dagegen gewehrt, dass Barmstedt zu meiner Heimat wird. Ich bin hier verheiratet, habe drei Kinder, sechs Enkelkinder sowie etliche Freunde und Bekannte." Und trotzdem: "Auch wenn ich nie wieder in Masuren leben möchte und werde: Hier ist lediglich mein Zuhause. Meine Heimat ist das nicht."