Heike Gätjen trifft jede Woche Menschen aus Hamburg. Heute: Literaturhauschef Rainer Moritz, der zusätzlich noch als Dozent an der Uni München un der Universität der Künste in Berlin arbeitet.

Dieser Mann kann reden! Da sind selbst die Enten an der Außenalster baff. Über alles einfach. Seine unverwüstliche Stoppelfrisur, selbst bei Seitenwind. Über Verlage, die ihm ihre neuen Autoren ans Herz legen. Und über Fußballschiedsrichter, die die gelbe und rote Karte stets so griffbereit im Anschlag haben sollten wie John Wayne seinen Colt. Da stehen wir schon mitten auf der Schwanenwik. Vom Verkehr umtost. Das Haus im Blick, in dem er seit 2005 mit viel Energie und Lust am Werken ist. Dr. Rainer Moritz, der Leiter des Hamburger Literaturhauses.

Drinnen im großen Saal ist schon alles bereit für die nächste Veranstaltung. Podium, Tisch, Stuhl, Wasserglas. Die Standardausrüstung für Autorenlesungen der klassischen Art. Dieses Zurückführen auf die Literatur, auf das Sprachkunstwerk, wenn er denn dieses altmodische Wort mal verwenden dürfe, sagt Rainer Moritz, sei durch nichts ersetzbar. Weder durchs Blättern im Internet noch durch Events mit Lesungen, Musik, Essen und Trinken. Dieser archaische Trieb, sehen zu wollen, wer den Roman geschrieben hat, sei der Prickel daran. Und ja, natürlich, Frau Gätjen, auch das komme vor. Dieses enttäuscht sein dürfen. Nicht jeder sympathische Mensch muss ein herausragender Autor sein. Was, sagt er, Sie fanden, dass Jonathan Franzen, dieser sensible Autor, Hände wie Schaufelbagger hatte? Da müssen Sie durch, auch wenn es schmerzhaft ist. Und schon ist da wieder sein leichtes Augenzwinkern, dieses langsam aufsteigende, unglaublich ansteckende Gelächter.

In der letzten freien Ecke richten wir uns ein, trinken Kaffee, reden über die wechselvolle Geschichte dieses Hauses. Als Privathaus Mitte des 19. Jahrhunderts für einen Hamburger Kaufmann gebaut, später als Tanzschule genutzt, als Durchgangsheim für Mädchen mit familiären und sozialen Problemen, bis es 1987 die "Zeit"-Stiftung kaufte, der Stadt zur Verfügung stellte und es zu einer kulturellen Institution für Literaturvermittlung mit eigenen Kinder- und Jugendprogrammen und einer Vielzahl literarischer Veranstaltungen wurde. Auch dank des Vereins Literaturhaus e. V. Mit Buchladen und florierender Gastronomie.

Rainer Moritz ist gerne hier. Als Leiter verantwortlich für die Programmgestaltung und die Finanzen. Eine im Verlagswesen, woher er ja kommt, kaum machbare Doppelfunktion. Und deshalb für ihn so reizvoll. Und überhaupt könne er darüber gleich noch ein paar Takte reden. Geld und die Kulturbehörde ... Nein, wie wäre es denn erst mal mit ihm? Diesem Schwaben mit dem sonnigen Gemüt und der schrägen Verbindung zum Fußball. Und zu deutschen Schlagern, unterbricht er schnell. Gut, aber erst mal die Sache mit dem Fußball. Ja, sagt er. Aber erst das andere noch. Die Sache mit dem Urschwabentum. Das würde er schon mal gar nicht verkörpern. Auch wenn er aus Heilbronn am Neckar stamme. Sein Vater käme aus der Oberpfalz in Bayern. Die Mutter aus dem Ruhrgebiet. Er sei also eine Mischung. Könne aber wunderbar Schwäbisch, um die Leute zu nerven. Es folgt eine Flut unverständlicher Wortkaskaden, aus der allein das Wort "Maultaschn" klar rüberkommt. Meine Matthias-Richling-Nummer, sagt er, oder der Tatort Kommissar Bienzle.

Also, sagt er, wo waren wir hängen geblieben. Bei seiner Fußballleidenschaft? Er habe eine Bibliothek von mehr als zweihundert Fußballbüchern, sagt er, die nicht in dem neuneinhalb Meter langen Bücherregal im Flur stehe sondern im Wohnzimmer, damit Gäste gleich sehen können, wes Geistes Kind er sei. Und wie schwierig es ganz früher war so im Kulturbetrieb, sich als Fußballfan zu outen. In diesen Jahren bevor es bei jedem FAZ-Feuilletonisten dazugehörte, sich essayistisch über Fußball auszulassen. Und schon sind wir wieder ganz woanders. Bei Begriffen wie Pseudobildungsbürgertum, mit dem er gar nichts anfange könne. Der scharfen Trennung zwischen E und U im Literaturbetrieb, dieser Abgrenzung von Alltagskultur zu Hoher Kultur, die längst nicht mehr so schroff sei wie früher. Bei der Schwierigkeit und dringenden Notwendigkeit, Kindern schon früh die Liebe zur Literatur zu vermitteln. Im Elternhaus, sagt er, selbstverständlich und ohne Zwang, sonst gehe der Schuss nach hinten los. Und dass auch falsch motivierte Deutschlehrer viel Unheil anrichten könnten. Er habe damals seinen Hunger nach Büchern in der Heilbronner Bücherhalle gestillt. Goethe, Schiller und Fontane. Sich alle zwei Wochen damit neu eingedeckt. Ein reiner Autodidakt sei er gewesen.

Wir bleiben kurz hängen bei seiner Zeit als Kriegsdienstverweigerer in einer Anlage für Betreutes Wohnen. Er deren Bibliothek einrichtete, sich mit Bittbriefen bei Verlagen Remittenden oder Freistücke besorgte. Es fing früh an bei mir, wie Sie sehen. Obwohl er lange Jahre als Schüler mehr allein in seinem Zimmer vor sich "hinbruddelte", Bundesligaspieltabellen auswürfelte. Und dann diese Zeit als Fußballschiedsrichter! Als er sich als Jüngster auf dem Feld bei diesen alten Fußballhasen mit dem Ziehen der gelben und roten Karte Respekt verschaffte, um die heimische Dorfkneipe einen großen Bogen machen musste, wenn er einen Elfmeter für die anderen gepfiffen hatte.

Was für ein hinreißendes Durcheinander! Zeitsprünge, schnelle Themenwechsel. Rainer Moritz ist ein Meister darin. Auch im Abschweifen, dem sich Verlieren in Nebensätzen, sich Berauschen an waghalsigen Formulierungen und dem Abtauchen in Lachsalven.

Eigentlich müssten wir jetzt endgültig den Saal hier räumen. Macht nichts, sagt Rainer Moritz, dann gehen wir nach vorn. Machen da weiter. Aber die Viertelstunde die uns hier bliebe, könnten wir ja noch mal kurz dem "Abseitsbegriff " widmen. Oder vielleicht seiner Liebe zum deutschen Schlager, die ihn zum absoluten Außenseiter in der Schule machte, weil die anderen auf Rolling Stones standen und er auf Jürgen Marcus und Christian Anders. Und erst später dann als Legitimierung entdeckte, dass diese Welt der Caprifischer immer auch ein Stück deutsche Sozialgeschichte widerspiegelte. Und nein, sagt er, Frau Gätjen, dazu kriegen Sie mich nicht. Ich singe kein Stück vor! Er würde sich nur an seinem Haussender 90,3 allein im Auto bei voller Lautstärke mal singend versuchen. Und schon sind wir wieder, ja, wo eigentlich?

Richtig, von seinem Buch wollte er erzählen. "Abseits. Das letzte Geheimnis des Fußballs". Das er zur nächsten WM 2010 wieder neu auflegen wird. Stellen Sie sich vor, sagt er, bei den Vorarbeiten sei er doch tatsächlich auf ein Gedicht von Theodor Storm gestoßen mit dem Titel "Abseits". Aus demselben Jahr stammend, in dem die Abseitsregel zum ersten Mal erwähnt wurde, 1867. Er hätte das Gedicht uminterpretiert, eingebaut und innerlich richtig gejuchzt. Und klar, die Abseitsregel könne er mir noch mal ganz kurz erklären. Mit diesen drei Objekten hier. Teelicht, Zuckerdose, Kaffeetasse. Hier, der Torwart von Hamburg, Rost, da der Stürmer von Bremen, Diego und das ist Hamburgs Mathijsen und dann ist das so ... Es folgen ein paar Spielzüge mit Diego alias Kaffeetasse als Hauptakteur und dem Trost für mich, dass es eben Dinge gäbe, die man nicht verstehen könne.

Wir reden noch ein bisschen darüber, wie jammerschade es sei, dass das Literaturhaus seinen romantischen Garten nicht nutzen könne wegen der Nachbarn. Darüber dass er am Wochenende gern koche. "Mein Ossobuco ist sehr zu empfehlen". Darüber dass es in seinem Wirtschaftswunderbuch ein "Kapitelchen" über Ochsenzunge in Madeira gäbe, das bei seinen Lesungen unheimlich gut ankäme. Und wie sehr es ihn und seine Schwester als Kinder geschaudert hätte, wenn dieses Gericht zu Hause auf den Tisch kam. Und von seiner großen Enttäuschung, als er jetzt beim Eurovision Song Contest für den Deutschlandfunk ein Feature über Intellektuelle und den deutschen Schlager geschrieben habe, und dieses dann von 0.05 bis ein Uhr gesendet wurde. Gnadenlos, sagt er. Und dass er sich jetzt, mit 51 Jahren, als Romanautor versucht hätte. An einem Liebesroman, dessen erste vierzig Seiten seine Frau abgenickt hätte, und der im Herbst auf den Markt kommt.

Und dann kehren wir noch mal zurück zum Fußball. Zu diesem wunderbaren Glücksgefühl, das es bei Männern auslöse. Ja, natürlich auch bei ihm, der ein treuer Anhänger von TSV 1860 München sei. Diese Emotionen beim Spiel, wenn die hochschlagen, man alles vergesse, jede Distanz verloren ginge. Eine Glückserfahrung wie Literaten sie beschreiben, sagt er, wenn sie in der Natur sind. Einem Orgasmus gleich? Oh nee, nee, sagt er, schöner Versuch, Frau Gätjen. Aber das würde er dann lieber Klinsmann überlassen, der bringe so was. Und dann verabschieden wir uns lachend. An der viel befahrenen Schwanenwik wo wir schon vor Stunden mit diesem herrlich unstrukturierten Gespräch begonnen haben.