Franz Wittenbrink, Neffe von Alfons Goppel (CSU), war einst Kommunist. Heike Gätjen traf den Macher der bekannten “Liederabende“.

Hamburg. Mit dem Zählen hat er es nicht so. Behauptet er zumindest. So um die 30 Liederabende könnten es schon sein, die er mit großem Erfolg auf die Bühne gebracht hat. Mit wie vielen Liedern auch immer, könne er nicht sagen. Nur eins wisse er genau. Das Stück "Ritze", das bis zum 4. April noch im St.-Pauli-Theater Furore macht, sei der dritte und letzte Teil seiner Kiez-Trilogie. Franz Wittenbrink, der Musiktheatermacher.

Und schießt schnell noch einen echten Wittenbrink hinterher. Wenn er so drüber nachdenke, könne eine Trilogie ja auch mal aus fünf Stücken bestehen. Oder? Das habe es noch nie gegeben. Lacht, hustet, wirft die Kaffeemaschine an.

Hier in seinem Haus in St. Georg zwischen Moschee, Polizeigebäude, Aldi und auslaufendem Straßenstrich. Wo die Welt so bunt ist, wie er sie immer wieder auf der Bühne besingen lässt. Voller Ängste, Nöte, Sehnsüchte, Träume. Und auch Albträumen. In einem steckt er selbst gerade drin. Als ehemaliger Internatsschüler der Regensburger Domspatzen erzählt er in Talkshows und Interviews von der Seelen zerstörenden Mischung aus Autorität, Strenge, Machtgefüge, körperlichen Züchtigungen, der er bis Ende der 60er-Jahre hilflos ausgeliefert war. Diese Atmosphäre von Angst und Schweiß verlasse einen nie mehr, sagt er.

Vergisst darüber die Milch, die er gerade aufschäumen wollte. Winkt ab, als das Telefon klingelt. Nein, heute nicht mehr. Setzt sich endlich, zündet sich eine Zigarette an und beginnt sein Leben im Zeitraffer abzuspulen. Dabei sich immer wieder im Lachen und in Details verlierend. Es ist ein bewegtes, rebellisches Leben, mit dieser Lust, am Abgrund entlangzuschrammen. Ein Dauerrebell von chaotischem Geist, dessen Sprachtempo man kaum folgen kann. Er sei eben ein eloquenter Schwätzer, sagt er.

Er wächst in einem streng katholischen Elternhaus auf. Als sechstes von 13 Kindern. Der Vater CDU-Stadtrat, zwei Tanten Nonnen, der Onkel, Alfons Goppel, bayerischer Ministerpräsident. Der sorgt dafür, dass der musikalisch hochbegabte Franz Josef in das Musikinternat der Regensburger Domspatzen kommt. Klavier, Cello, Orgel, Trompete spielt und nach dem Stimmbruch Altbariton singt. Musiktheorie hat er drauf wie eine Muttersprache. Und die "Theorie der unangreifbaren Außendarstellung", so nennt er es. Seinen Schutzfilter, gegenüber körperlichen Drangsalierungen. Er tritt aus der Kirche aus, will in einer flammenden Abiturrede abrechnen mit diesem System, die Eltern verreisen rechtzeitig mit ihm.

Franz Wittenbrink schwimmt weiter gegen den Strom. Marschiert beim Bund gegen den Takt, schießt absichtlich daneben. Druckt nachts Flugblätter gegen die Bundeswehr, landet im Knast. In Leer wird er als Hüter des ABC-Schutzkellers eingeteilt. Trägt morgens die Temperatur ein, abends die Luftfeuchtigkeit. Schläft und liest die Zeit dazwischen weg. Stößt auf das Kommunistische Manifest. Wird Mitglied bei den Hardlinern, den Leninisten. Ersetzt eine Heilslehre zur Rettung der Welt durch eine andere.

Er wäre einfach für alles anfällig gewesen zu dem Zeitpunkt, sagt er. Alles, was die Welt besser machen könnte. Fährt Gabelstapler, arbeitet am Fließband, lernt Maschinenschlosser, hält flammende Reden. Und studiert Volkswirtschaft und Soziologie. In Heidelberg wird er zum Bürgerschreck. Mit seiner Freundin in Ganzkörperbemalung à la Niki de Saint Phalle. "Eine lustvoll wilde Zeit."

Ein winziger Mokkalöffel fällt zu Boden. Ein Familien-Erbstück. Mit der Gravur AW. Franz Wittenbrink erzählt von dem anderen Erbstück, das ihm das Wichtigste sei. Eine Zigarettendose. Vom Vater in der russischen Gefangenschaft mit einem aus Stacheldraht gearbeiteten Messer geschnitzt. Er könne heute noch heulen, wenn er es in die Hand nehme. "Eine geschnitzte Idylle aus Eichenlaub und Bäumen - und die sind da verhungert und verreckt."

Eigentlich wäre jetzt Zeit für eine Atempause. Einen neuen Kaffe vielleicht auch noch. Doch Franz Wittenbrink stoppt auf dem Weg zur Kaffeemaschine. Erzählt von dieser abgrundtiefen Leere, in die er stürzt. In den 70er-Jahren. Die Politphase vorbei, die Freundin weg, das Zimmer auch, das Studium abgebrochen, die Musik verleugnet, keine Perspektive mehr. Irgendwie fällt er zurück ins Leben, spielt sich am Klavier in einer Mannheimer Bar den Schmerz von der Seele, wird fürs Theater entdeckt. Und entdeckt für sich die Kunst, Theater anders zu erzählen. In gängigen Liedern, Schlagern, Schnulzen. "In der Einfachheit und Klarheit steckt ja auch das Große." Oder, sagt er hingerissen, "bei stehendem Teppich lustvoll fliegen."

Also fliegen wir weiter. Vorbei an seiner Auszeit von drei Jahren. Als er eine seiner drei Töchter bei sich und seiner Lebensgefährtin, der Schauspielerin Anne Weber, aufnahm. Dass er seinen Kindern unbedingt die Lust am komplizierten Denken vermitteln wolle. Dass er sich gerne irgendwo zwischen Bert Brecht und Oscar Wilde einordnen würde. Mit einem satten Schuss Boshaftigkeit.

Vom in jedem Menschen existierenden Aggressionspotenzial sprechen wir noch und von seiner eingebauten Körpersperre gegen einen allzu unübersichtlich werdenden Alkoholpegel. Und von seinem immer wieder kehrendem Traum: vom Wolf gefressen zu werden. Sich hinterrücks zu befreien und ihn in die Flucht zu schlagen.

Mein Gott, sagt er irgendwann, wie wollen Sie das alles jemals zu Papier bringen? Keine Ahnung. Aber an seiner Seite hat man es auch nicht mehr so mit dem Zählen. Von Stunden.