Dieser Koffer auf dem langen Flur verrät alles über ihn. Er ist ein Mann, der zwischen Aufbruch und Ankunft lebt.

Dieser Koffer auf dem langen Flur verrät alles über ihn. Er ist ein Mann, der zwischen Aufbruch und Ankunft lebt. Der sich einen "Reisejunkie" nennt und "einen ziemlichen Herumtreiber". Matthias Politycki, der mit seinem Ende der 90er-Jahre erschienenen "Weiberroman" zum Männerbeauftragten der neuen Literatur gekürt wurde und endlich leben konnte von dem, was er am liebsten tut. Schreiben und Reisen.

Sein Radius ist groß. Rein gourmetmäßig schon mal. Beginnt bei den leckeren Arrakrollen von Bäcker Wulff gleich hier um die Ecke, über den braunen Rum Ron Mulata in einer Kaschemme in Santiago de Cuba und endet noch lange nicht beim Captain's Dinner auf einem Kreuzfahrtschiff. Überall ist man dabei. In seinen Romanen, Gedichten und seiner neuesten Novelle, mit der er gerade wieder auf Lesereise geht.

Und so lässt man sich gerne von ihm zum gedanklichen Mitreisen verführen. Hier in der Altbauwohnung im Generalsviertel. Wo er vor 17 Jahren angekommen und heimisch geworden ist. Aus Liebe zu seiner Frau Birgit. Ein Münchner im Norden, wo die Welt sich nicht nur wie in Bayern in Nord und Süd aufteile, sagt er. Sondern auch in Ost und West. Wo sein Laufkumpel gleich über ihm wohnt.

Am Kaifuufer bis hoch zum Klosterstern laufen sie, einmal um die Alster und wieder zurück, zwischen 70 und 80 Minuten pro Strecke. So ist Michael Politycki. Ein wunderbarer Erzähler. Mit akribischer Detailfreude und skurrilen Seitensprüngen. Und ein aufmerksamer Gastgeber noch dazu. Brüht Espresso auf, serviert ihn stilecht mit einem Glas Wasser, teilt sorgfältig mit dem Gast das Kuchenstück. Im perfekt geschnittenen Anzug mit modisch offenem Hemdkragen. Vorsicht, sagt dieses Outfit. Hier geht's nur oberflächlich leicht und lässig ab. Das Leben ist ein ernstes Ding. Für ihn, den Ewigsuchenden. Der Erfahrungsschnipsel sammelt, abspeichert, zusammenpuzzelt. Zu einem Roman von mehr als 700 Seiten, einer Novelle von knapp 150, zu ironisch verfremdeten Wortspielen in seinen Gedichten.

In Kneipen wird er gerne fündig. In diesem soziologischen Mikrokosmos. Intellektuelle, Hardcore-Trinker, Taxifahrer, Rentner und selbst gerade aus dem Gefängnis entlassene Mörder. Social slumming sei das. Im Pamukkale auf der Schanze genauso wie an der Bar des Kreuzfahrtschiffs MS "Europa", auf der er als erster Schiffsschreiber um die Welt reiste, daraus ein tägliches Logbuch im Internet machte und daraus wiederum den erfolgreichen Roman "In 180 Tagen um die Welt".

Den Grundstein für diese Reiselust legten seine Eltern. Wissenschaftler, die mit dem kleinen Matthias auf dem engen Platz hinter der Rückbank im VW über die Alpen düsten. Die immer bereit waren, für seine Reisekosten aufzukommen, nicht aber für Stereoanlagen, Boxen, Verstärker. Die musste er sich selbst verdienen. Mit dem Entsorgen gehäckselter Akten auf der Müllkippe, Gärtnern, Fabrikarbeit.

Auch die Lust am Lesen verdanke er seinen Eltern, sagt er. Die Mutter, die über einem guten Buch schon mal das Mittagessenkochen vergaß. Seine ersten Leseversuche an Ata und Persilkartonaufdrucken in der Küche.

Und dann das Schreiben! Seine romantische Phase in den Wäldern gleich hinterm Haus. Mit Kickerfreunden, die alle dasselbe Mädchen liebten, und alle vergeblich. Die ihren Liebeskummer und Weltschmerz in Versform austobten. Nächtelang bis zum Morgengrauen. Freunde mit katholischem Elternhaus. Anders als er, das protestantische Einzelkind, das ohne Weihrauch, Mysterien, Legenden aufwuchs. Ohne Fernsehen, Cola, Comics. Nur mit Klavierspielen und Nietzsche. Seinem Säulenheiligen, wie er sagt, den er wie ein Alter Ego durchs ganze Leben schleppe.

Wir lachen ein bisschen über seinen Satz, dass Männer Computer so sehr lieben, weil sie so kompliziert seien wie Frauen. Halt, sagt er, diesen Satz möchte er jetzt lieber revidieren. Sein neuer Laptop. Wunderbar. Elegant. Viel einfacher als Frauen, aber genauso schön. Und, nein, als Mann müsse man Frauen nicht verstehen. Auf keinen Fall. Man müsse sie nur lieben. Wobei das kleine Wörtchen "nur" schon die ganze Problematik beinhaltet, die er beim Schreiben auslebt. Gnadenlos. Von flatternder Verliebtheit über erotische Verirrungen bis hin zu Verlustängsten. Der Sensemann lauere doch immer im Hintergrund, sagt Matthias Politycki, holt einen neuen Espresso.

Und ist sofort wieder drin im Thema. Mit dem Reisen sei es wie mit den Frauen. Er verstünde keines der Länder so richtig, die er bereist habe. Versuche zu ergründen, was Menschen umtreibt, müsse alles schmecken, riechen, fühlen. Und komme doch allem immer nur ein Stückchen nahe. Es sei trotzdem ... ach, wie nur? Gleich hab ich es, sagt er. Wenn das Ausland ruft, sei das wie eine Droge.

Ein langer Espressoplausch geht langsam in den Abend über. Endet vor dem ordentlich sortierten Bücherregal. Fassen Sie ihn nicht an, warnt Matthias Politycki. Diesen Altar. Palo Monte aus Kuba. Reinster Voodoo. Wer den Knochen berührt, ruft den Toten, der dazugehört.

Und was dann? Probieren Sie das lieber nicht aus. Ein leises Prickeln, ein verlockender Schauder. Und dann traue ich mich doch nicht ran. An diese Grenzüberschreitung. Vor der sich selbst er, der rastlose Reisende, fürchtet und die er sich immer wieder von der Seele schreibt.