Holger Stanislawski träumt von einem Leben in Australien. Heike Gätjen begegnet einem Urgestein des FC St. Pauli.

Hamburg. Diese Stadt ist gespalten. Rein fußballtechnisch. In die mit der Raute und die mit dem Totenkopf. Was für ein Glück, dass hier in der einsamen Seitenstraße in Niendorf eine nette Frau zum richtigen Lager gehört. Zurück, sagt sie. Dann rechts, wieder rechts und noch mal rechts. Und dann sind Sie da. Bei den Jungs. Vom FC St. Pauli. Die mit dem Totenkopf. Und er ist auch schon da. Mit dem Pappbecher in der Hand. Voll Kaffee, seinem Lebenselixier. Holger Stanislawski, der Trainer. Seit dem 30. April auch mit Schein. An der Sporthochschule Köln mit Auszeichnung als Jahrgangsbester gemacht. Der "Stani", wie er genannt wird. Und manchmal auch Holger. Mit einem scharfen "r" am Ende. Von Ehefrau Michelle. Wenn irgendwas schiefgelaufen ist.

Holger Stanislawski ist ein entspannter Gesprächspartner. Mit Grübelfalten auf der Stirn. Und schnell zum Lachen bereit. In diesem kargen Vereinsraum tobt es gerade lärmend. Seine Jungs sind vom Duschen zurück. Könnt ihr ein bisschen leiser sein da hinten, grölt Stanislawski kurz rüber. Das ist ja wie in der Kneipe. Es wird ruhig. Hier hört alles auf sein Kommando.

Also, sagt Holger Stanislawski dann nachsichtig. Es sei schon okay. Wenn mir Fußball und die Abseitsfalle fremd seien, sei das auch kein Ding. Das sei echt schwierig. Was für ein netter Mann!

Holger Stanislawski ging durch eine harte Schule. Bei seinem Vater, einem Betriebsprüfer beim Finanzamt und selber begeisterter Fußballer. Der am Spielfeldrand tobte und schrie. Damals beim Bramfelder SV, bei dem Holger Stanislawski zuerst kickte. Ja, sagt er, mein Vater war schon sehr straight. Mit seinem: Mann, Mann, Mann, das kann doch nicht wahr sein!!! Und diesem Geschnalze, dieses "t t t t t t". Das habe ihn schon geprägt. Er habe gelernt, mit Kritik umzugehen, und begriffen, dass nicht alles im Leben rosarot sei. Und abgefärbt habe es auch. Stani wurde schon mal wegen allzu lautstarker Kommentare auf die Tribüne verbannt. Zu seinen ersten Kritikern nach jedem Spiel gehört übrigens Ehefrau Michelle, die ihm am Telefon ihre Meinung sagt. Und auf die höre er. Als Trainer, sagt er dann nachdenklich, bist du immer die Frontsau. Die können ja nach 'ner Pechsträhne nicht die ganze Mannschaft entlassen, da ist dann der Trainer dran. Aber er mache sich da wenig Sorgen. Könne im Notfall wieder zurück in seinen erlernten Beruf als Masseur. Auf einer Tankstelle arbeiten oder Pizza ausfahren. Sei sich für nichts zu schade, hänge nicht an scharfen Autos, teuren Klamotten. Die Armbanduhr sei sein einziger Luxus. Eine TW Steel. Und zwei Ringe habe er noch. Außer dem Ehering, den er nie ablegen würde. Die beiden anderen trägt er bei Spielen.

Den Silbernen, den er und die Mannschaft sich zum Aufstieg 2006/2007 haben machen lassen. Und den Siegelring mit dem FC- St.-Pauli-Wappen. Ein Geschenk von Ticketchef Torsten Vierkant. Davon gäbe es nur zwei. Das hört sich irgendwie nach geheimer Bruderschaft an. Ja, sagt er lachend. Fußball, das sei eine eigene Welt und sein Leben. Aber manchmal steige er völlig aus. Schalte einfach ab. Lasse sich nur noch berieseln. Auf der Couch. Von "Star Wars". Davon habe er die ganze Palette. Und schlafe meist dabei ein. Shila zu seinen Füßen, die kugelrunde Labradorhündin. Ein Rubensmodell, sagt er. Ausgesucht aus dem Wurf, weil sie knubbeldick und faul im Futtertrog saß. Die würde passen, fanden er und seine Frau.

Von Träumen reden wir noch. Vom Aufstieg in die Erste Bundesliga. Nein, das sei kein Traum, sagt er nüchtern. Das sei einfach harte Arbeit. Aber seine Frau und er würden gerne irgendwann für ein paar Jahre nach Australien gehen. Sie sähe ihn da schon so über eine Bergkuppe reiten. Als kerniger Schafscherer. Im Sonnenuntergang. Stanislawski streicht über sein rappelkurzes Haar, zwirbelt ein bisschen verlegen an seinem kleinen Ziegenbart und lacht los. Er könne nicht mal reiten. Und sei sicher eher der Typ Fuzzi im Planwagen und nicht der Marlboro-Man.

Wir reden noch ein bisschen über Ehrgeiz und Durchhaltevermögen. Von beidem hat er eine ganze Menge. Wie im letzten Jahr, als er zwischen Köln und Hamburg hin und her pendelte. 40 000 Kilometer abfuhr. Im Doppelstress. "Wenn ich was anfange, will ich das auch schaffen", sagt er. Und auf den Fahrten habe er sich aus allem, was er an der Uni gelernt habe, den perfekten Trainer im Kopf zusammengebastelt: so freundlicher Diktator.

Und plötzlich sind wir weit weg vom Fußball. Er schreibe gern Gedichte, bekennt Holger Stanislawski. Witzige Gedichte, sagt er schnell auf mein Erstaunen hin. Und nicht wirklich von der Muse angehaucht. Für Geburtstage, für Mannschaftskollegen. Da kämen schon mal zwölf Seiten zusammen. Auch für seine Frau? Ja, sagt er knapp. Und dann: Nein, nein, nein. Einen kurzen Zweizeiler auf seinen Verein, seine Jungs - das könne er nicht so aus der hohlen Hand. Nee. Nicht wenn jemand neben ihm säße.

Dann gehen wir nach draußen über den Rasen. Richtung Tor. Reden darüber, dass ein Trainer immer auch ein Schauspieler sei. Eine Rolle spiele. Über Unwägbarkeiten im Leben. Wie Krankheiten. Das Einzige, das ihn ängstige. Weil er sich da so hilflos fühle. Und auch über Glück. Dieses große Unberechenbare, an das er glaube und das ganz kleine und profane, das es an jeder Tankstelle gibt. Marzipan mit Nougat von Schokolade überzogen. Wenn ihn mal so richtig der Heißhunger packt. Landen kurz noch bei der schwedischen Rockband Mando Diao, die einen ihrer Songs beim letzten Konzert in der Color-Line-Arena dem FC St. Pauli widmete. Genau gegenüber vom feindlichen Lager, dem HSV. Feindlich? Na ja, sagt Holger Stanislawski, er kenne viele Leute, die beiden Mannschaften den Daumen drücken. Und er fühle sich einfach als Hamburger, der das Spektakel auf dem Fußballfeld liebt. Auch mal vereinsübergreifend.

Heike Gätjen trifft jede Woche Menschen aus Hamburg. Immer freitags im Lokalteil.