Heike Gätjen trifft jede Woche Menschen aus Hamburg. Heute Ali Güngörmüs, Sternekoch

Von hier aus hat er alles im Blick. Die Terrasse, auf der gerade die Tische für die Mittagsgäste gedeckt werden. Den Containerhafen, an dessen schleppender Betriebsamkeit er die Weltwirtschaftskrise ablesen kann. Und auch Didi, den champagnerfarbenen Mops, der gerade unter wildem Getöse seinem Herrchen wie immer um die Mittagszeit entgegenrennt. Und so gutartig sei, dass er selbst einem Einbrecher noch die Taschenlampe halten würde. Und dann bricht er in Gelächter aus. Der Mann mit dem schwierigen Namen, den alle nur Ali nennen, und der sich hier an der Elbchaussee einen Michelin-Stern erkocht hat. Als einziger türkischer Koch der Welt, wie er sagt. Ali Güngörmüs, Inhaber und Chef des Le Canard Nouveau.

Sie hat was von einer Kommandobrücke, diese Aussichtsplattform in der Mitte der Rampe, die zu seinem Restaurant führt. Auf der sich schon mal Neugierige drängeln, wenn die "Queen Mary 2" den Hafen ansteuert oder verlässt. Und die dann mehr oder weniger sanft darauf hingewiesen werden, dass Elbblick pur mit 'ner Cola oder 'nem Bier auf dieser Terrasse nicht ganz im Sinne des Chefs sind.

Hier bestellt und zahlt man mehr. Und das ist auch gut so, findet Ali Güngörmüs. Denn bei ihm bekomme man Qualität und kreative Kochkunst vom Feinsten. Mediterrane Küche mit orientalischen Akzenten. Mittags auch mit der Auswahl von zehn Gerichten, beliebig variierbar als zweigängiges Menu für 29 Euro. Und klar, auch das könne ich haben, wenn mir danach sei, sagt er. Zwei Desserts als Menu. Holunderblütenmousse mit Honigmelone und Champagnersüppchen etwa und dazu Vanilleeis und Aprikosen an "Mandelclafouti" oder wie auch immer. Denn der genaue Wortlaut geht in seinem Gelächter unter, als er erzählt, womit er einst in München Furore machte. Das Gericht mitsamt Spruch für 24 Euro: Der Tag wird schöner mit Alis Döner - de luxe, versteht sich. Mit Gänseleber und Trüffel.

Wir sitzen längst an einem der strahlend weiß gedeckten Tische. Ali Güngörmüs pult ein bisschen an einem seiner blitzblank gescheuerten Finger herum. Da wäre noch etwas dran, sagt er. Ein kaum sichtbarer Rest der Kalbshälfte, die er eben noch auseinandergenommen hat. Denn er hat heute Morgen wie immer selbst in der Küche mit Hand angelegt.

Seine Geschichte ist die vom Tellerwäscher, der es bis ganz an die Spitze schafft. Zu Ruhm und Reichtum. Ruhm ja, sagt er zögernd. Ein Michelin-Stern, 16 Punkte im "Gault Millaut", und noch in München zum Aufsteiger des Jahres in der Edel-Kochszene gekürt. Aber reich? Nein, das sei nicht drin. Da müsse man schon eine Pizzeria aufmachen. Für 200 bis 300 Leute. Das sei nie sein Ziel gewesen. Er habe immer einen Plan gehabt und ihn Schritt für Schritt verwirklicht. Nein, nicht schon damals als Zehnjähriger, als er mit seiner Mutter und fünf Geschwistern aus dem anatolischen Hochland zum Vater nach München kam. Von Tunceli nach München.

Tunceli, sagt er, ist die modernste Stadt der Türkei. Mit fast 30 000 Einwohnern, 99 Prozent vom Glauben her Aleviten. Aufgeschlossen, liberal. Alis Vater will dort ein Lebensmittelgeschäft aufbauen. Sich in München dafür das Geld verdienen und nach fünf Jahren zurückkommen. Aus einem Laden werden zwei, dann drei - bis es der Mutter reicht. Sie will Klarheit. Entweder alle hier oder da. Aber nicht mehr getrennt. Seine Mutter, sagt er, eine mutige und sensible Frau, die ihre Familie zusammenhalten will. Eine Analphabetin, der er vor zwei Jahren einen Volkshochschulkursus geschenkt hat. Und die jetzt mit 62 Jahren lesen und schreiben kann. Und er sehr stolz auf sie sei. Ja, sagt er, seine Eltern seien auch stolz auf ihn, und er gebe gern.

Zurück zu Ali Güngörmüs und seinen Plänen also. Damals in München. Wo er im Kirchenverein Fußball spielt. Als linker Verteidiger. Den Hauswirtschaftskurs in der achten Klasse der Hauptschule mit Auszeichnung abschließt, "Kochen ist meine Leidenschaft". Und trotzdem mit 14 Jahren eher aus Zufall eine Kochlehre beginnt. Ein Freund aus dem Freizeitheim bietet ihm einen Schnupperkursus in seinem Lokal an. Und Ali, der ohnehin gerade darüber nachdenkt, was er denn nun nach der Schule mit seinem Leben anfangen soll, greift zu. Die Sache mit der Hip-Hop-Showband sollte es nicht sein, das war ihm klar. Davon ein Leben leben. Nein! Singen, tanzen und swingen in dieser MAC-Show, benannt nach seinem älteren Bruder Murat, ihm, Ali, und seinem Freund Cetin, das kann es doch nicht sein. Zumal der Vater darauf besteht, dass seine mittlerweile sieben Kinder eine Lehre, egal was, oder ein Studium abschließen. Ali stürzt sich also aufs Kochen. In einem richtigen Wirtshaus, dem Gasthaus am Rosengarten. Rappelvoll am Sonntag nach dem Kirchgang und dem Friedhof. Familien, die Schweinebraten und Goldbarsch gebacken mit Kartoffelsalat bestellen. Solide Hausmannkost eben. Und ordentliches Küchenhandwerk. Das Showtalent bleibt erhalten, ist bei Bedarf einsetzbar.

Und dann setzt sein Plan ein, den er mit Disziplin, Energie, Neugier und einer gehörigen Portion Talent durchzieht. Mit 14 Lehrling sein, sagt er. Mit 17 ausgelernt haben, von 17 bis 24 als Koch arbeiten, mit 25 Küchenchef werden und sich mit 30 selbstständig machen. Das klappt. Auf den Punkt genau. Ali Güngörmüs erzählt von seiner Freundin Stephanie, die ihm gut zuredet, als er dann doch kneifen will. Sich an diese "tolle, zum Verlieben schöne Location" in Hamburg nicht mehr rantraut. Was sollte ich da, sagt er, ich kannte niemanden, wusste nicht einmal, wo ich den Zucker für das Restaurant kaufen sollte. Und sie immer wieder sagt, denk positiv, und wenn es nichts wird, hast du wenigstens mal Hamburg gesehen,

Es wird was. Der Besitzer der schon seit anderthalb Jahren leerstehenden Immobilie an der Elbchaussee, Architekt Meinhard von Gerkan, und er werden sich einig. Und Freunde. Den langen Schatten des berühmten, unter Querelen abgetretenen Vorgängers und Sternekochs Josef Viehauser schüttelt er ab. Behält den Namen "Le Canard" bei, hängt nur ein "Nouveau" hinten dran, erkocht sich schon nach einem Jahr den berühmten Stern und ein gut betuchtes Stammpublikum. Und verliert trotz allem einiges an Punkten. Vor wenigen Tagen. Auf der Werteskala des "Feinschmecker". Wegen eines "moderigen geräucherten Forellenfilets". Für einen kurzen Augenblick nur werden Alis schöne grüne Augen schmal. Es war keine geräucherte Forelle, sagt er. So was habe er nicht auf seiner Speisekarte. Das sei Genörgel ohne Sachverstand. Und dann: Ach, abhaken und nach vorne gucken!

Ali Güngörmüs ist ein heiterer Gesprächspartner. Selbstbewusst, mit einem guten Schuss Selbstironie und einer nach allen Seiten ausstrahlenden positiven Energie, die längst zu seinem Markenzeichen geworden ist. Und nichts kostet, sagt er. Ganz im Gegensatz zu den an jedem ersten Sonnabend im Monat abgehaltenen Kochkursen, die er gibt. Nein, sagt er, wenn Sie gar nicht kochen können, bringt es Ihnen nichts. Es wären Tipps und Tricks für Fortgeschrittene, die er vorführt. Bewunderung für 200 Euro? Ja, sagt er lachend. Das habe doch auch was. Und außerdem gäbe es ein köstliches Menu. Und jetzt am 5. September hätte er "Soohsen" auf dem Programm.

Wir reden noch ein bisschen darüber, dass er sonntags im Christianeum mit 15 Freunden Fußball spielt. Zur Entspannung. Dass er mittags manchmal kurz über die Straße nach Hause geht. Zu Stephanie, seiner Lebensgefährtin seit zehn Jahren. Die dann Pasta für ihn kocht, Strammer Max oder eine Suppe. Dass er eben auch mit wenig zufrieden sei. Und nein, sagt er, das beziehe sich nicht auf ihre Kochkünste. Das gelte ganz allgemein fürs Leben. Man müsse ja davon ausgehen, dass es nicht immer nur bergauf gehen könne.

Die ersten Mittagsgäste kommen. Zwei reife Damen, lunchgerecht gestylt. Ali Güngörmüs begrüßt sie mit seinem strahlenden Lächeln. Muss wieder in die Küche. Und dann trotzdem noch eins ganz kurz loswerden. Nach der ersten langen Pause in unserem Gespräch. Er sortiert seine Worte und sagt dann strahlend, er werde Vater. In den nächsten Tagen schon. Das sei das absolut größte Ereignis dieses Jahres. Und überhaupt nicht zu toppen. Eine Riesenfreude, viel Neugier, Respekt habe er und ja, auch Angst. Bei der Geburt möchte er dabei sein. Er, der beim Blutabnehmen schon umfalle. Und dann wird es schräg und liebenswert wirr. Er werde eben älter. Und auch weiser. Denn das sei drin in seinem Familiennamen. Güngörmüs, wie positiv in die Sonne, in den Tag schauen. Und durch Lebenserfahrung weise werden. Und darum werde er in diesem Jahr zum ersten Mal sein Restaurant am 24. Dezember schließen. Sich und seiner Familie Zeit schenken. Und dann wieder alles wie immer im Blick haben.