Heike Gätjen trifft jede Woche Menschen aus Hamburg. Heute Herma Koehn, Schauspielerin

Drüben auf der anderen Seite der Hudtwalckerstrasse hat ihr Triumphzug begonnen. Auf der Studiobühne des Winterhuder Fährhauses. Als "Frauke Petersen oder Die heilige Johanna der Einbauküche". Seitdem hat sie sie 277-mal gespielt. Wurde mit dieser Frau, die ihrem schal gewordenen Alltag entflieht, zur Kultfigur der Hamburger Theaterszene. Herma Koehn, die mehr als 40 Jahre fest verankert im Ensemble auf der Bühne des Ohnsorg-Theaters stand. Auch als Frauke Petersen auf Plattdeutsch. Und jetzt als freie Schauspielerin immer noch verbunden ist. Diesem Theater, dem sie ein regelmäßiges Auskommen für sich und ihren Sohn verdankt, wie sie sagt, und auch dass "meine Brüste immer bedeckt bleiben durften".

Wir sitzen im Café Leinpfad. Teilen uns eine Portion Sah-ne "wegen der Linie" zum Pflaumenkuchen, und Herma Koehn lässt ihr Leben Revue passieren. Bedächtig und durch nichts aus dem Takt zu bringen. Nicht vom Kindergetobe direkt hinter uns am Tisch. Und auch nicht von den kernig anzusehenden Altherrenachtern neben uns auf dem Alsterarm.

Ein Leben ohne großen Zickzackkurs. Bis hin zur Frauke Petersen. Ein kleiner Abstecher aus der Routine des Ohnsorg-Theaters der zum Selbstgänger wurde. Diese Frauke mit dem Mann an der Seite, der Klitoris für eine Automarke hält. So wie der Ford Cortina. Nur langsamer. Der ihr wenig Raum für Sehnsüchte lässt und zu dem sie dann letztlich doch nach einem Ausbruch nach Griechenland zurückkehrt. Frisch aufpoliert an Leib und Seele. Mit dem Satz: Ich bin jetzt wieder Frauke Petersen.

Einen großen Bogen schlägt sie. Beginnend mit der jungen Herma, die mit ihren älteren Zwillingsschwestern Heidi und Heike im St.-Pauli-Theater in "Heimweh nach St. Pauli" auf der Bühne steht. An der Seite von Freddy Quinn spielt und sogar mit ihm über die Bühne kraucht. Einmal. Nach der Vorstellung. Auf der Suche nach ihren Kontaktlinsen. Oder viel früher noch. In der Schule. Mit Klassenkamerad Thomas Fritsch, der findet, ihre Beine seien viel zu kurz um Schauspielerin zu werden. Dem sie ausgerechnet die Rolle des Gretchens in einem Schülerwettbewerb verdankt. Es damit zu einem Stipendium bei Eduard Marks bringt. Und es nicht annehmen darf. Die früh verwitwete Mutter würgt Seitensprünge dieser Art nur mit einem einzigen Satz ab. "Meine Töchter tun so was nicht."

Ein Leben, das schließlich zu Anni Wilke in Stephen Kings "Misery" im April dieses Jahres auf der Bühne des Ohnsorg-Theaters führt. Der Rolle einer Psychopathin, die all ihre Liebessehnsüchte und Aggressionen an einem hilflos ans Bett gefesselten Schriftsteller austobt. Mit dem Hackebeil. Und das ihr!, sagt Herma Koehn, die auf Anraten ihrer Schauspiellehrerin Ende der Achtzigerjahre ans Ohnsorg-Theater geht. "Um mal etwas Leichtigkeit zu lernen." Weil sie nicht ihr ganzes Leben lang die Wahnsinnige spielen könne. Wie in ihren Lieblingsvorsprechstücken Gretchens Kerkerszene und Lucille am Galgen. Und die dann als Amok laufende Irre das Jubiläum ihrer 40-jährigen Bühnenzugehörigkeit begeht, vom Förderkreis des Ohnsorg-Theaters dafür mit der Ohnsorg-Verdienstmedaille geehrt wird. So, sagt sie, spielt das Leben. Auf der Bühne.

Das also war der Schnelldurchlauf. Und nun das Ganze noch mal langsamer. Ach ja, sagt sie, aber wo haken wir denn überhaupt ein? Wir bestellen erst mal noch einen Cappuccino. Und versuchen es dann. Herma Koehn ist eine ernsthafte, bedachte Gesprächspartnerin. Voll Wärme, vielen Selbstzweifeln, von dem Hang zum sich selber immer wieder infrage stellen und unendlichen Gedankensprüngen. Unterbrochen oft von unerwartet schrägen Sätzen, die in ansteckenden Lachkaskaden enden. Wie die Sache mit dem Sex auf der Bühne. Wie immer wir auch darauf gekommen sind. Das Thema habe sie aus dem Beruf schlicht ausgeklammert, sagt Herma Koehn. "Ich kenne alle meine Kollegen nur vertikal und angezogen." Oder die der anrührenden Erinnerung an Rolf Mares, den verstorbenen Intendanten des Winterhuder Fährhauses, dem sie den Einstieg in ihre Traumrolle der Frauke Petersen verdankt. Und dem sie heute noch immer einen kleinen Gruß als Dank gen Himmel schickt. Wenn sie auf der Bühne das Wort Calamares sagt. Und wo waren wir nun eigentlich stehen geblieben?, fragt sie. Irgendwo.

Herma Koehn, also, aus einem "Volksfürsorgehaushalt". Der Großvater hat sie mitgegründet, die Eltern sind dort Angestellte. Eine Familie, die es mit dem H im Vornamen hat: Heinz, Herbert, Heinrich, Hanne, Hulda, Heike, Heidi und sie selbst nach dem Vater Hermann eben Herma. Der Vater stirbt, als sie sechs Jahre alt ist. Die Mutter hält die Familie erst mit Heimarbeit über Wasser, geht dann zurück ins Büro. Die drei Töchter schließen sich eng zusammen. Werden zu einer "Seelengemeinschaft". Verbündet auch gegen die Mutter, die ihnen wenig Freiraum lässt. Herma später noch nach jeder Vorstellung von der Straßenbahn Linie 9 abholt. "Da war nicht mal ein Schwätzchen mit Kollegen drin." Zum lockeren Leben sei sie aber sowieso nicht geeignet gewesen, war schüchtern, gehemmt. Schnell ins Schneckenhaus zurückgezogen. Nur Widerstände treiben sie zu Höchstleistungen, sagt sie. Und so schafft sie es. Macht erst eine "ordentliche Lehre". Bei der Hamburger Sparkasse. Finanziert damit ihr Studium an der Schauspielschule. Spielt nebenbei immer schon kleine Rollen. Kann endlich zu Hause ausziehen. Mit 27 Jahren. Fühlt sich frei. Ganz anders als die Mutter, die alle Träume vom Seiltanz im Zirkus begraben musste und nicht einmal den Frauenfunk hören durfte, wenn der Vater zu Hause war. Herma Koehn bekommt die ersten Rollen am Ohnsorg-Theater. Bleibt in Hamburg. Muss bleiben, sagt sie. Sie ist schwanger, zieht zurück nach Fuhlsbüttel in die Nähe ihrer Mutter und ihren Sohn alleine groß. Steht sieben Tage die Woche auf der Bühne. In mehr als 120 Rollen. Gesundes Mittelmaß, sagt sie. Sie könne gut Texte auswendig lernen. Mehr nicht. Nebenbei macht sie sich ans Übersetzen von Bühnenversionen für "ihr" Theater. Aus einer Fremdsprache in die andere. Vom Englischen ins Plattdeutsche, das auch sie erst am Ohnsorg-Theater gelernt hat. Und hat heute eine so, sie breitet beide Arme weit aus, große Sammlung von plattdeutschen Nachschlagewerken. Auch Frauke Petersen hat sie selbst übersetzt. Vom Liverpooler Slang der "Shirley Valentine" des Briten Willy Russell ins Plattdeutsche und dann noch in eine hochdeutsche Fassung. Auch die Bearbeitung von Stephen Kings "Misery" fürs Ohnsorg-Theater ist ihr zu verdanken.

Ein langes gutes Leben, sagt sie. 43 Jahre ununterbrochen im Beruf. In ihrer Vaterstadt. Mitten im Herzen. Und ja, sie werde nächsten Monat 65 und stehe ab jetzt auch dazu. Und übersetze gerade Truman Capotes "Glasharfe", da seien schöne Rollen auch für reife Frauen drin "das lässt doch hoffen". Und auch die Bühnenversion des Briefwechsels von George Sand und Gustave Flaubert, die ihr sehr am Herzen liege, habe sie fertig und sei damit im November im Torhaus in Wellingsbüttel.

Eine Frau voller Pläne. Aber ohne jede Hektik. Ein fast beständiges Leben. Begleitet von Qigong, Tai-Chi, dem sonntäglichen Nordic Walking mit Schwester Heike von der Ohlsdorfer Schleuse bis hierher ins Café Leinpfad zum Frühstück mit Müsli und Joghurt und Reisen an die See mit den beiden Enkelkindern. Wir lachen ein bisschen darüber, dass jede Frau wahrscheinlich einen Traummann mit sich herumtrage. Und ihrer ausgerechnet der amerikanische Schauspieler Cary Grant gewesen sei. "So unverschämt schön" und leider für die Frauenwelt verloren. Dass die Liebe einem einfach so passiere, wie ein Virus über einen herfalle. Altersunabhängig sei. Glücklicherweise! Und auch von diesen Augenblicken erzählt sie. Früher. Als sie sich fragte, ob es denn das wirklich schon gewesen sei. "Plattdeutsch auf der Bühne herumzuhüpfen." Herma Koehn ist immer noch erstaunt darüber, wie viel Wut sie jetzt im April in "Misery" in sich gespürt habe. Und wie toll es sei, als wahnsinnige Anni Wilke auf der Bühne zu stehen und als Herma Koehn nach Hause zu gehen. Es sind nur Rollen, sagt sie entschieden, ein Beruf.

Eine Rolle will sie im nächsten Jahr aus diesem Berufsleben streichen. Die der Frauke Petersen. Im Juli damit ein letztes Mal auf der Bühne stehen. Ein letztes Mal den Monolog mit dem Satz beenden: Jetzt bin ich wieder Frauke Petersen. Und dabei wird ihr ein Kloß im Hals sitzen. Oder sie wird feuchte Augen haben, ist sie sich sicher. Und vielleicht wird sie auch sagen: Jetzt bin ich nur noch einmal wieder Frauke Petersen. Oder: zum letzten Mal noch. Und dann lacht sie. Sehr, sehr behutsam.

Herma Koehn wurde am 16. September 1944 in Kleinheubach am Main geboren. 1968 wird sie festes Ensemblemitglied im Ohnsorg-Theater, sie tritt dort in 120 verschiedenen Rollen auf. Seit 2001 arbeitet sie als freie Schauspielerin. Sie machte als "Frauke Petersen oder Die heilige Johanna der Einbauküche" Furore und wurde gerade in Stephen Kings "Misery" enthusiastisch gefeiert. Herma Koehn hat einen erwachsenen Sohn, zwei Enkelkinder und wohnt in Fuhlsbüttel.