Heike Gätjen trifft jede Woche Menschen aus Hamburg. Heute Annette von Rantzau, Internatsleiterin

Annette von Rantzau hat einen Traum. Und sehr viel Haltung. Das eine verliert sie nur ungern. Das andere hat sie wahr gemacht. Den Traum von einem eigenen Internat. Anders als die herkömmlichen. Und natürlich anders auch als Hogwart, die Schule für Hexerei und Zauberei in Schottland, deren prominentestem Schüler Harry Potter auch sie gerade einen enormen Zuspruch verdankt. Annette von Rantzau, Internatsleiterin von Schloss Rohlstorf in Schleswig-Holstein.

Ein skurriler Vergleich? Nicht wenn man sich mit Annette von Rantzau auf ein Gespräch einlässt. Dem Lieblingsfach der Hogwart-Schüler, die Verteidigung gegen die dunklen Künste, könnte auch sie etwas entgegensetzen, sagt sie. Vielleicht schon bald. Das ungewöhnliche Schulfach Glück. Lernen, mit sich selber im Einklang zu leben. Sich selbst gegenüber achtsam zu sein. Sich zu mögen. Und so auch den Kampf gegen die dunklen Kräfte in sich selbst zu gewinnen. Das wird kommen, sagt sie zuversichtlich. Und man möchte es ihr einfach glauben. Dieser Frau, die von sich sagt, dass gerade das eine ihrer großen Stärken sei. Andere Menschen begeistern zu können, wenn sie selbst von einer Sache überzeugt ist. Und das kann sie wirklich. Mit unglaublicher Verve, strahlend blauen Augen, einer aufrechten Haltung passend zur stilvoll hanseatischen Umgebung. Das sorgfältig arrangierte Angebot von Kaffee, Tee, Gebäck. Alles mit diesem Hauch von lange eingeübter Selbstinszenierung. Und der plötzlich entwaffnend dazwischengeworfenen Frage, ob wir den Tee nicht auch aus Kaffeetassen trinken könnten. Die Teetassen habe sie vergessen. Und den Tee würd's doch eh nicht kümmern. Nein, und mich ganz sicher auch nicht.

Und dann sind wir mittendrin. In ihren Lieblingsthemen. Erziehungsprobleme, hilflose Kinder, hilflose Eltern, hilflose Lehrer. Dem immer noch "fälschlicherweise" an Internaten haftenden Symbolcharakter von elitärem Touch. Dem falschen Klang des Begriffes Bildungsbürgertum im 21. Jahrhundert. Und eben immer wieder in ihrem endlich verwirklichten Traum. Dem vom Internat mit einem Reformprogramm. Die ganzheitliche Einstellung zum Thema Schule. Die Verbindung von Lernen und Leben. Und dazu noch diese Nischenfunktion! Und zwar bundesweit. Wohnen, Schlafen, Essen, Hausaufgabenbetreuung, Freizeit - alles unter einem Dach. Nur die Schulen nicht. Die gibt es außer Haus. Für jede Art von Schulabschluss. Für Kinder und Jugendliche aus allen sozialen Schichten. Von neun bis 21 Jahren. Bis hin zu denjenigen, sagt sie fast ohne Luft zu holen mit leiser präziser und sehr eindringlicher Stimme, die aus dem öffentlichen System rausgefallen sind, weil sie die Pflichtschulbesuchsjahre absolviert haben. Die in einem internatseigenen Intensivkurs so fit gemacht werden, dass sie draußen weiterführende Schulen besuchen können. Und eine Einrichtung der öffentlichen Jugendhilfe seien sie auch. Und zwar weil ... Halt, halt, halt! Das Tempo ist nun wirklich zu rasant. Ja?, sagt Annette von Rantzau, nur das noch. Der Betreuungsschlüssel bei dieser Rund-um-die-Uhr-Betreuung in ihrem Internat sei so exorbitant gut, deshalb also die Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe.

Über sich möchte sie eigentlich gar nicht so gerne reden, sagt sie dann zögernd. Lieber über ihre Reformpädagogik, die so vielschichtig ist wie die Kinder, um die es geht und wie die Gesellschaften, in denen sie leben. Darüber hat sie auch gerade ein Buch geschrieben. "Wir mögen dich so, wie du bist". Ein Fachbuch eher denn Lesestoff, gibt sie zu.

Annette von Rantzau nun also doch. Hineingeboren in die Kriegs- und Nachkriegswirren. Die Flucht der Familie aus Westpreußen. Der Treck. Das erste Zuhause in Kappeln an der Schlei. Das Weiterziehen quer durch die Republik mit dem Vater, einem Physiker, seinen Dozentenstellen, bis ins Ruhrgebiet. Ständige Schulwechsel. Die ersten anderthalb Jahre mit einem Privatlehrer, der in ihr die Neugier weckt, den Wissensdurst, den Mut zur eigenen Meinung. Eine privilegierte Kindheit? Auch vielleicht, ja, sagt Annette von Rantzau zögernd. Der Vater, "ein alter Vater", Jahrgang 1900, streng, autoritär, sehr liebevoll dabei. Der das kleine Nettchen nicht einschränkt, sie wachsen lässt und ihr den Weg zur öffentlichen Schule ersparen möchte. Ein großes Glück, sagt sie. Der Hauslehrer ein begeisterungsfähiger Mann, der mit der Sechsjährigen die Ilias liest "natürlich nicht im Original", das Siegfriedheldenepos. Sie wird eine begeisterte Schülerin trotz all der Schulwechsel. Eine begeisterte Lehrerin später. Besucht als Klassenlehrerin die Familien "ihrer" Kinder zu Hause. Will wissen, wie sie leben, wie es bei ihnen aussieht, warum sie so sind, wie sind. Und schon ist sie wieder bei "ihrem" Internat. Wo es genau auch darum ginge. 65 Mädchen und Jungen vom Punk aus Jenfeld, sagt sie, bis hin zum Millionärstöchterchen aus Blankenese. Ein Abbild der Gesellschaft. Soziale Kompetenzen sollen sie lernen. Nicht nur reines Wissen wie mit einem Trichter eingeflößt.

Und dafür hat sie sich drangemacht. 2002 das insolvente Internat auf dem familiären Gutsbetrieb bei Bad Segeberg übernommen. Sich Hals über Kopf ins pädagogische Abenteuer gestürzt. Angespornt von ihren Erfahrungen mit den auf dem Gelände veranstalteten Sommercamps für Hochbegabte des Kölner Lernwissenschaftlers Professor Kluge. In ihm findet sie einen Gleichgesinnten, erkennt in seiner Kompetenzpädagogik viele ihrer eigenen Ideen. Begeistert sich immer mehr für das Prinzip einer Pädagogik, durch Wertschätzung, Akzeptanz und Herzenswärme in jedem Kind Freude am Lernen wecken zu können. "Was für eine Gelegenheit! Endlich alles, was man gelernt hat, was einen interessiert, umsetzen zu können!"

Da geht einem schon beim Zuhören die Puste aus. Ja, sagt sie, so sind die Widder. Die haben ein starkes Durchsetzungsvermögen. Und gehen dabei auch durch jede Mauer? Wie?!, sagt sie, ich seh' die Mauer gar nicht. Sie erzählt von ihren vier Söhnen. Zwischen 23 und 36 Jahren. Die im Ausland studieren, jeder seinen eigenen Weg geht, ohne aus der Spur zu laufen. Und die sich, sagt sie, als Glieder einer Kette sehen sollten. Das sei ihr wichtig. Sehr wichtig. Wenn ein Glied der Kette durchgescheuert sei, schwach werde, müssten die anderen einspringen, das Glied stützen, damit diese Kette erhalten bleibe. Und, sagt sie lachend, und ausgerechnet diese Söhne hätten mal gesagt, dass sie als Mutter eine Glucke sei. So nach dem Motto: Mami friert, wir müssen uns warm anziehen. Ja, sagt Annette von Rantzau, und dominant sei sie. Wie Mütter von Söhnen eben. Und konsequent. Und streng. Anders als ihr Mann. Der habe diese Milde, diese Geduld, die ihr fehle. Auch mit ihr und ihren vielen sozialen Engagements und jetzt dem Internat dazu noch, das sie mit sich nach Hause trage. Nicht einfach ausblenden könne. Aber so was sei er gewohnt, der Reeder Heinrich von Rantzau. Starke engagierte Frauen. Seine Mutter, Liselotte von Rantzau-Essberger, leitete bis zu ihrem Tod die traditionsreiche Familien-Firmengruppe. Und außerdem belebt und bereichert das doch eine Ehe auch enorm, sagt sie.

Sie empört sich darüber, dass es im Deutschen, und zwar nur hier, den Begriff "Rabenmutter" gäbe. Fremdbetreuung, sagt sie, wenn sie quali-tativ gut ist, schade schließlich keinem Kind. Schulen könnten einfach längst nicht mehr davon ausgehen, dass ihnen "voll sozialisierte Kinder" vor die Tür gestellt werden. Wir landen bei veränderten Familienstrukturen, Benimmregeln und Glaubensfragen. Dass sie abends den Kindern aus der Kinderbibel vorgelesen hat. Ach, sagt sie plötzlich, das hört sich alles so sehr nach Sendungsbewusstsein an. Nein, sie habe einfach nur ganz bestimmte Vorstellungen, wie es sein könnte. Nein. Sollte. Nein. Müsste. So! Sie beklagt ihre Ungeduld, dass sie andere nicht ausreden lasse. Erzählt, dass jetzt, je älter sie werde, diese osteuropäische Seele irgendwie bei ihr durchkomme. Dieses leicht Sentimentale, Melancholische. Und schüttelt den Gedanken schnell ab. Bei Gefühlsduseleien mag sie sich nicht ertappen lassen.

Erzählt lieber von dem Besuch ihrer drei Enkelkinder. Zwei turbulente Wochen. Von dem Schreiwettbewerb, den sie mit ihnen veranstaltet hat. Jeder durfte einmal schreien, so laut er konnte. Sie selbst blieb Sieger. Und wozu das Ganze? Um mal loslassen zu können, sagt sie. Von Regeln. Diesem ewigen von außen gesteuert werden. Dabei sei sie selber wahrscheinlich auch viel zu kontrolliert. Und dann, nach einer kleinen Pause: Aber war es nicht allein verrückt genug, dieses Internat aufzumachen? Sich das zuzutrauen!? Und, sagt sie, es geht ja weiter. Sie habe schon einen neuen Traum: eine eigene reformpädagogische Schule. In ihrem Internat! Und auch das wird sie sicher schaffen. Mit Energie, Konsequenz. Ein bisschen von Harry Potters Zauberkraft. Und auf jeden Fall mit Haltung.