Heike Gätjen trifft jede Woche Menschen aus Hamburg. Heute Michael Stich, Tennis-Idol

Männerbeine haben was. Oder auch nicht. Wie man hier in den Räumen des DTB, des Deutschen Tennisbunds, an der Alsterchaussee an der Wand sehen kann. Da sind sie alle aufgereiht, die hier auf dem Court siegreich den Schläger schwangen. In langen und in kurzen Hosen. Aber wann denn der entscheidende Übergang zum nackten Männerbein war, das wisse er auch nicht, sagt er. Nur dass seine Ära die der superkurzen Shorts war. Michael Stich, der Direktor des von Krisen geschüttelten Tennisturniers am Rothenbaum, das an diesem Wochenende beginnt.

Über die Frage, was denn am besten nach dem Komma hinter seinem Namen stehen solle, gibt's gleich eine längere Debatte. Michael Stich Komma Unternehmer. Das würde passen. Und Stifter auch. Als Berufung, nicht als Beruf. Und Philanthrop können Sie auch schreiben. So als Geisteshaltung. Auf keinen Fall aber Tennisprofi. Oder Ex-Tennisprofi. Die Zeiten seien endgültig vorbei. Abgehakt. Also, sagt Michael Stich, streichen Sie es auch mal gleich durch da in Ihrem Block. Sonst bleibt es wieder drin. So ist er. Wachsam, vorsichtig, sehr ernsthaft. Und auch sehr nett. Und mit Dreitagebart. Nein, sagt er. Er habe das Rasieren heute nur mal gelassen. Um Zeit zu sparen. Aber wenn Sie denn meinen, das sei ein Hauch von Angesagtsein, dann ist es jetzt so.

Also gut, sagt er, dann lassen Sie uns doch mal schwätzen. Über mich und mein Leben. Aber zuerst über seine Stiftung. Die Michael-Stich-Stiftung - für HIV-infizierte und betroffene Kinder, die er 1994, drei Jahre nach dem Aids-Tod des Tenniskollegen Michael Westphal gründete, und mit der er auch an Hamburgs Schulen Aids-Prävention betreibt. Und dann knackt er mit den Fingern. Ein scharfes schmerzhaft lautes Geräusch, wie der Aufprall eines Tennisballs nach einem harten Aufschlag. Schnell nimmt er noch einen Schluck aus dem Kühlbecher. Grüner Tee mit Zitrone, von zu Hause mitgebracht.

Die Stiftung also. Ja, vor allem die Sorglosigkeit, mit der gerade auch junge Leute heute mit der Aids-Gefahr umgehen würden, sei für ihn erschreckend. Mit Aids, "der größten Seuche, die die Welt je gesehen hat". Und die doch so wenig wahrgenommen in den Köpfen präsent sei. Die Geschichte der HIV-positiven No-Angels-Sängerin Nadja Benaissa, die mehrere Partner infiziert haben soll, nach wenigen Tagen wieder von den Titelseiten verschwunden. Die Mexiko-Grippe, ein Dauerthema. Aber 8000 Aids-Tote pro Tag in Afrika, beruhigend weit weg. Wir reden über Kondome. Dass deren Verwendung für viele junge Leute als Misstrauensbeweis gelte. Was für ein Blödsinn, sagt er. Das sei Selbsterhaltungstrieb. Auf beiden Seiten. So lange, bis der HIV-Test ein klares Ergebnis bringe.

Darüber könnte er sich noch ganz lange auslassen. Michael Stich, der Mann, der es als einziger Spieler mit Abitur an die Weltspitze geschafft hat. Sollte Intelligenz etwa karriereschädlich sein? Also, ihm habe es nicht geschadet, sagt er. Man lerne, damit ganz gut zu leben, Gefühle richtig zu kanalisieren. Das sei doch toll, sagt er und lacht ganz entspannt, dass man plötzlich auch mit Abitur Tennisprofi werden konnte, so wie heute vielleicht Bankmanager mit einem Kunststudium.

Und, nein, gekränkt habe es ihn nicht. So im Nachhinein gesehen. Dieser Kopf- und Bauchmensch-Vergleich. Mit Boris Becker, seinem ewigen Erzrivalen. Bobbele, der Publikumsliebling, mit dem er im Doppel bei den Olympischen Sommerspielen in Barcelona die Goldmedaille gewann. So sei es nun mal gewesen, sagt er. Boris galt als der Emotionalere, mit dem man mitleiden konnte, und er war eben der Gegenpol. Dieses Rollenspiel, good Guy, bad Guy. Er habe es angenommen.

Aber eigentlich, sagt er, sei er ein sehr emotionaler Mensch. Das Spannungsfeld zwischen Rationalität und Emotionalität sei wichtig im Leben. Er könne im Kino weinen. Oder neulich bei dieser Dokumentation im Fernsehen. Ein Mensch aus dem Iran, der seit frühester Kindheit an Muskelschwund leidet, dem die Ärzte nur fünf Jahre geben und der sich mit 36, nur noch 18 Kilo wiegend, mit seinem besten Freund auf die Suche macht. Nach diesem Arzt. Quer durch Amerika. Und ihn dann findet. Eine Geschichte von Freundschaft, sagt Michael Stich, Lebensmut. Das habe ihn schon sehr bewegt. Und er erzählt von dem Tod seiner Mutter, die 1999 an einem Hirntumor starb. Von dem Tag, als sie vom Arzt die Diagnose erfahren. Als er, Michael Stich, immer wieder verzweifelt fragt, ob denn gar nichts dagegen zu machen sei. Und die Antworte des Arztes kommt: Nein nichts. Es ist, wie es ist. Dieser Satz, so banal er auch klänge, habe für ihn im Laufe des Lebens unheimlich an Bedeutung gewonnen. Ihn dazu gebracht, zu akzeptieren, dass man Dinge nicht ändern, nur versuchen könne, es besser zu machen. Beim nächsten Mal. Ja, das gelte auch für sein Leben. Menschliche Fehlschläge. Wie seine erste Ehe. Pause. Ein Schluck Grüner Tee.

Sein Engagement am Rothenbaum. Sei auch rein emotional begründet, sagt Michael Stich. Er hänge an diesem Platz. Habe hier als kleiner Junge zum ersten Mal Welttennis gesehen. Sei über den damals noch kurzen Maschendrahtzaun geklettert, vorbei an den Ordnern, die den Kopf wegdrehten, habe hier später in der Qualifikation spielen, dann im Hauptfeld und dann gewinnen dürfen. Dieses Turnier mit seiner 100-jährigen Tradition. Wir würden mit Traditionen in dieser sich immer schneller drehenden Welt sehr fahrlässig umgehen. Und nein, er sei kein Hasardeur, kein Retter, kein Heilsbringer. Man habe ihn gefragt. Er habe es sich zugetraut und Ja gesagt.

Michael Stich bringt es Spaß, sich mit allen möglichen Dingen ernsthaft auseinanderzusetzen, sich an von seinen Eltern mitgegebene Werte zu halten, wie Verlässlichkeit, Ehrlichkeit, Verantwortung und Pünktlichkeit - "Okay, das war ich heute nicht", gibt er zu. Nicht immer zu denken, das klappt schon irgendwie. Selbst Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen.

Er, das Nesthäkchen, mit zwei älteren Brüdern, der gerne zu Hause lebt, von seinen sportbegeisterten Eltern gefördert wird. Auch das fehle heute, sagt er. Eltern würden die Kinder zum Hockey, zum Tanzen fahren und wieder abholen. Bei ihm waren sie immer dabei, inklusive der Oma, hätten mitgelitten, sich mitgefreut. Niederlagen und Siege gemeinsam durchlebt.

Bis zur 4. Liga ist er Libero beim in Hamburg gefürchteten Fußballverein Rasensport Elmshorn, entscheidet sich dann doch für Tennis. Ihm habe Einzelsport mehr gelegen. Da sei man für sich allein verantwortlich. Er wird Jugendmeister, sein Talent fällt auf, Niki Pilic holt ihn nach München. Michael Stich kniet sich rein, arbeitet hart, hat auch "dieses kleine Quäntchen Glück", schafft es von Platz 580 in der Weltrangliste auf Platz 80 und findet, dass es ja doch einfacher sei als er gedacht habe. Das Leben als Tennisprofi. Alles schafft er. Wimbledon, Daviscup.

Fünf Jahre lang rührt er nach seinem Rücktritt 1997 keinen Tennisschläger mehr an. Um Abstand zu gewinnen, zu begreifen und herauszufinden, was danach kommt. Und ist heute froh, dass er wieder Turniere mitmacht, als Sportkommentator für den BBC Wimbledon begleitet. In den fünf tennislosen Jahren hat er Kunstgeschichte studiert, Kunst gesammelt, selbst gemalt. "Großflächig, großformatig, abstrakt. Gefühle ausgelebt." Bei ProSieben hat er die Sendung "Maulwurf" moderiert. Aber das sei nicht sein Ding, sagt er. Da sei er realistisch und ehrlich sich selbst gegenüber. Aber eine Talkshow, sagt er plötzlich, das wäre auch was. Er sei neugierig, interessiere sich für Menschen, was hinter der Fassade läge, könne zuhören. Aber kein Seitenwechsel jetzt?! Nein, sagt er lachend. Sie sind dran.

Wir reden noch über seinen Hang zur Sturheit. Das müsse sein, wenn man etwas durchziehen will, sagt er. Kompromisse ja. Aber verbiegen niemals! Er erzählt, dass er vielleicht mal gern für zwei Wochen in ein Kloster gehen möchte. Nicht um sich selbst zu finden, nein, sagt Michael Stich, er wisse schon sehr gut, wer er sei. Auch als Ehemann? Ja, sagt er, er behaupte mal, zu achtzig Prozent gut, zu zwanzig Prozent nein.

Dann enden wir beim Tennis. Dem zweitliebsten Sport der Deutschen. Und trotzdem, sagt Michael Stich. Irgendetwas fehlt. Die Öffentlich-Rechtlichen würden dem nicht Rechnung tragen. Nicht übertragen. Eine Identifikationsfigur fehle. Wie damals Boris, Steffi und er. Aber die könne man sich leider nicht backen. Dass es vielleicht auch an der Hosenlänge liegen könne, mag ich ihm gar nicht sagen. Ihm, dem Gedankenschwergewicht. Die Tennishose wird gerade wieder lang. Bis zum Knie schon. Und das, nachdem der Engländer Henry Austin, genannt Bunny, 1932 als erster in Wimbledon die Männerbeine befreite. Mit nacktem Bein lockte, schockte - und das Endspiel verlor.