Heike Gätjen trifft jede Woche Menschen aus Hamburg. Heute: Sybil Gräfin Schönfeldt, Schriftstellerin

Sie hat ein neues Knie. Aus Titan. Die Gräfin. Eine Riesennarbe hat sie auch und ein paar Wochen verordnete Ruhe dazu. Eine Baustelle sei sie eben, sagt sie. Auf ihrem Balkon in luftiger Höhe. In unmittelbarer Nachbarschaft von Kollegen, Verwandten und Freunden. Nur die Schwäne fehlen heute Morgen in dieser Idylle an einem Alsterarm in Winterhude. Und was, sagt sie, Sie haben Höhenangst, hier im zweiten Stock! Dann halten Sie sich mal schön an mir fest. Und lassen die Gräfin weg und sagen einfach Frau Schlepegrell. Denn so heißt sie auch seit ihrer Heirat vor mehr als fünfzig Jahren. Sybil Gräfin Schönfeldt, Journalistin und Schriftstellerin, Expertin für Literatur und Etikette, die mehr als 20 Bücher geschrieben und weit mehr als 100 übersetzt hat. Bei 111 habe sie aufgehört zu zählen, sagt sie, weil das eine so schöne Zahl sei.

Seit 48 Jahren wohnt sie schon hier. In dieser von Büchern, Erinnerungen, einer Katzensammlung und vielen Bildern angefüllten Wohnung. Hier sind ihre beiden Söhne groß geworden. Hier ist im letzten Jahr ihr Ehemann gestorben. Und hier entsteht auch schon wieder ihr neues Buch. Über Anstand, Sitte und Moral natürlich. Ein paar Jahrhunderte zurückverfolgt und wie immer mit der Hand geschrieben. Einen Computer hat sie nicht. Sie hasst es, mit Mails zugemüllt zu werden. Wo nur fängt man bei ihr an!

Bei dieser Frau, die allein schon von ihrer Familiengeschichte her ein überreicher Fundus ist. Ein Stück europäische Geschichte sei das, sagt sie. Immer wieder bewegend auch für sie, weil bitter arm und unermesslich reich manchmal innerhalb einer Generation schon aufeinanderprallen.

Die Billie hat hinausgeheiratet, hieß es damals, als sie mit dem Kaufmann Heinrich Schlepegrell nach Hamburg zog. Die in Bochum geborene Österreicherin aus altem Adelsgeschlecht, deren Mutter kurz nach ihrer Geburt starb. Carmen Sackermann, die Tochter eines Plantagenbesitzers in Manila. Und ja, im letzten Dezember und "Jänner" sei sie dort auf Spurensuche gegangen. Und habe einen Vetter getroffen. Irgendwelchen Grades. Auf jeden Fall gab es einen gemeinsamen Großvater. Den, der vor dem Ersten Weltkrieg mit ihrer Großmutter verheiratet war und nach der Scheidung noch dreimal vor Ort wieder heiratete. Auch die Großmutter heiratete zurück in Deutschland wieder neu. Elbert von Gorrissen. Sybil Gräfin Schönfeldts Stiefgroßvater, der in ihren Büchern immer wieder auftaucht.

Was für eine Familie! Stoff genug für einen üppigen Roman, oder wenigstens eine Biografie. Nein, sagt sie, da gäbe es so viel kluge und interessante Leute, die von größerem Interesse seien als sie. Aber hier, sagt sie, ich hole mal eben zwei Bilder. Und dann stehen sie vor uns. Im Silberrahmen, leicht vergilbt und sehr elegant. Großvater Carlos mit der Großmutter und Tochter Carmen, der Mutter Sybil Gräfin Schönfeldts. Auf dem anderen Bild zwei ernsthaft aussehende Frauen in Schwesterntracht mit einem kleinen Mädchen ganz in Schwarz in der Mitte. Ihre Großtante und deren Oberin vom Roten Kreuz von 1866 in Frankfurt, die die kleine Sybille nach dem Tod ihrer Mutter in eine karierte Reisedecke einwickelt und nach Nassau an der Lahn holt. Dort bleibt sie sechs Jahre, bis sie zurück zur Großmuter nach Göttingen kommt. Diese heißgeliebte Großmutter, die der Siebzehnjährigen später für die lange Reise zu einem 1944 längst sinnlosen Arbeitsdiensteinsatz nach Oberschlesien außer wunderbar dick belegten Butterbroten und wollener Unterwäsche den Satz mit auf den Weg gibt: Denk immer daran. Anständig bleiben.

Jetzt. Raus endlich mit dieser brennenden Frage. Was also ist Anstand. In einer Zeit, in der es so offensichtlich damit bergab geht. Bei Bankern, Politikern, Managern und einer um sich selbst kreisenden Generation. Hat ein Mann, der den Handkuss formvollendet draufhat, aber heimlich seine Frau betrügt, etwa Anstand? Ja, ja, das sei diese typische Situation, sagt Frau Schlepegrell, der Grund, warum Etikette, Anstand und gutes Benehmen so leicht verhöhnt werden könnten. Gutes Benehmen ließe sich für alles missbrauchen, instrumentalisieren. Um sich einzuschmeicheln, besser zu verkaufen oder die Welt zu belügen. Hitler habe schließlich auch zur Eröffnung der Bayreuther Festspiele einen Frack getragen. Der Kern sei wichtig. Das sittliche Empfinden, Wahrhaftigkeit und Echtheit. Moral und Manieren als Basis für den Umgang miteinander. Beides. Nur Moral sei unerträglich und nur gute Manieren seien auch zu verachten.

Ein feuriges Plädoyer aus berufenem Munde in Sachen Anstand.

Fast nimmt man Haltung an. Die eigenen hochgekrempelten Jackenärmel wirken plötzlich total daneben. Die aufgestützten Ellbogen leicht deplatziert. Entwarnung folgt auf dem Fuß. Das eine sei nur bei Männern affig und das andere okay, denn wir würden ja schließlich nicht zusammen essen. Vom "Klicken und Gucken" beim Zuprosten ist noch kurz die Rede, "eine merkwürdige Sitte"; von der "Unsitte", Kaffeetassen wie Becher zu umfassen. Genauso wie beim Weinglas die Cuppa und nicht den Stiel. Über von jungen Mädchen bei Tisch benutzte Deosprays lachen wir noch kurz, Zahnseideneinsatz beim Essen, aus dem Kragen heraushängende Textilienlabels. Ach, es gäbe da schon grausige Dinge.

Und erst diese maroden Tischsitten. Dieser Mangel an Tischkultur. Raus aus der Tiefkühltruhe, rein in die Mikrowelle und dann jeder ab in seine Ecke, heiße es heute. Gemeinsames Essen, sagt Sybil Gräfin Schönfeldt, sich zu unterhalten, zu fragen, zu antworten, auch mal den Mund zu halten, zu sehen, wie verschiedene Generationen untereinander agieren, das sei bei vielen vorbei. "Ein freiwilliger Verzicht auf Grundelemente unserer Kultur!"

Sie sei altmodisch, wird ihr oft vorgeworfen. Und ja, dazu stehe sie. Altmodisch im Sinne von konservativ, von etwas für die Zukunft konservieren. Das sei wichtig. Darüber und über viele andere Dinge schreibt sie schließlich schon seit mehr als vierzig Jahren. Als freie Mitarbeiterin. Wegen der Familie. Auch bei der Wochenzeitung "Die Zeit". In diesen frühen Jahren, als die Redaktion nur aus wenigen Leuten bestand. Und es diese berühmte Ledercouch gab, auf der im Notfall übernachtet wurde und wo es immer hieß, frei nach ihrem Autorenkürzel "sy", Sychen, du hast doch gerade ein Kind bekommen, schreib doch mal was über Kinder, übers Kochen, über Erziehung, und Sybil Gräfin Schönfeldt so zur "Jugendliteraturpäpstin" wurde. Eine verheiratete Frau und Mutter die auf eigenen Wunsch und zum Überleben der Familie Journalistin und Autorin wurde. "Ein bunter Hund", sagt sie.

Das erste Geld verdient sie sich früh. An einer Berliner Grundschule. Mit einer Geschichte, die sie für fünf Pfennige an Mitschüler verkauft. Dafür ersteht sie einen Strauß Veilchen, ihre Lieblingsblumen. Aber nein, das hätte nichts mit diesem Poesiealbumspruch zu tun: Sei wie das Veilchen im Moose, bescheiden, sittsam und rein ... Nein, sie sei eine Rosskastanie. Frei nach einem Gedicht von Karl Heinrich Waggerl, das ihr ein Wiener Nennonkel mit auf den Weg gegeben habe: Wie trägt sie bloß ihr hartes Los in Straßenhitze und Gestank. Und niemals Urlaub, keinen Dank! Bedenk, Gott prüft sie nicht nur, er gab ihr auch die Rossnatur. So sei sie. Das Ergebnis auch ihrer unbehausten Jugend, sagt sie, die sie selbstständig gemacht habe. Und auch sehr selbstbewusst. Für andere manchmal schwer zu ertragen. Ihr Ehemann habe sehr viel Geduld mit ihr gehabt, und beide zueinander sehr viel Liebe.

Die blau blühenden Veilchen auf dem Balkon, sagt sie leiser, seien neben der großen alten Blutbuche das letzte gewesen, was ihr Mann von seinem Bett aus gesehen habe. Und sie erzählt von diesen schwarzen Tagen nach seinem Tod. Wenn man eigentlich denke, man wisse alles über Tod und Sterben, schreibt darüber und "redet gescheit". Und dann begegnest du ihm selber, und alles ist völlig anders. So wie in den Märchen, wo es immer heiße, Freund Hein oder Gevatter Tod stünden an der Tür. Einfach so. Und man kann nichts machen. Ein Teil des Lebens, sagt sie. Und, nein, man müsse sich davor nicht fürchten. Sie habe keine Angst mehr vor, nein, höchstens um. Die Kinder etwa, Freunde, die ein Teil des Lebens sind.

Eigentlich möchte man ihr noch stundenlang zuhören. Dieser humorvollen warmherzigen Frau, die auch gern mal so provokante Sätze sagt wie über die Jugendliteratur, die heute manchmal nur "pinke Mädchenliteratur mit SMS-Gegrunze" sei. Denken Sie daran, sagt Frau Schlepegrell zum Abschied, zehn Prozent von diesen zwei Stunden können Sie eh nur verwenden. Wie wahr! Und kommt lieber nicht mit zur Tür. Ihr Knie sei eingerostet vom langen Sitzen. Eine Baustelle eben immer noch, sagt sie lachend.