Heike Gätjen trifft jede Woche Menschen aus Hamburg. Heute Gerd Kruse, Schiffsbegrüßer.

Plötzlich ist es da. Dieses Kribbeln im Bauch. Dann hält er nur noch drauf, sagt er. Filmt, was das Zeug hält. Beim Hafengeburtstag die Windjammer "Krusenstern" und "Mir" unter vollen Segeln! Vor zwei Jahren die "Queen Mary" zum Greifen nah! Da kommt er ins Schwärmen. Der Mann, der schon hunderte von Schiffen begrüßt und verabschiedet hat. Gerd Kruse, einer der fünf Hobby-Kapitäne der Schiffsbegrüßungsanlage im Schulauer Fährhaus in Wedel. An Dienstjahren der Jüngste. Vom Körperumfang her der Stattlichste. Mit einer erst spät erwachten Liebe zur See.

Jetzt, um 14 Uhr, ist Ebbe. Nichts los auf der Elbe. Auf der Terrasse umso mehr. Zwei Busladungen aus Oberfranken sind gerade angekommen. Die Temperatur unter der Überdachung steigt. Der Lärmpegel auch. Kellner schwitzen. Balancieren Stapel von Tellern mit üppigen Schollen. Gerd Kruse in seiner proper sitzenden Uniformjacke mit den drei Ärmelstreifen - "vier wären erst ein echter Kapitän!" - macht da ordentlich was her. Schaulaufen für Landratten irgendwie. Ja, sagt er lachend. Drinnen im Restaurant ist es leer und kühl. Muße und Ruhe genug für ein langes Gespräch.

Gerd Kruse hat einen Spickzettel dabei. Damit er bloß nicht den Faden verliert bei all den Döntjes, die sich da so angehäuft haben über die Jahre. Auf dem langen Weg zu der kleinen Kabine dicht an der Terrasse mit der Rundumverglasung, in der er seit fünf Jahren schon seinen Spleen auslebt, wie er es nennt. Sein Kollege Rolf Jensen hält da heute die Stellung. Umgeben von 17 000 archivierten Schiffsdaten. Einer Computeranlage für Nationalhymnen und Landesflaggen. Und natürlich einem Fernglas für die Feinarbeit.

Gerd Kruse also. Ohne Jacke jetzt. Rötlich, gemütlich. Das weiße Hemd selbst gebügelt. "In der Wäscherei laufen die nur ein." Ein kaltes Spezi, ein Stück Frankfurter Kranz muss noch sein. Und dann geht es ab. Dieses Leben, eng verknüpft mit der deutschen Nachkriegsgeschichte. Nein, sagt er, früher noch. Sein Großvater, ein Telegrafenassistent, war schließlich schon dabei, als 1900 die ersten Telefonleitungen zu den Halligen gelegt wurden. 1944 kommt die Familie bei den Großeltern in Pinneberg unter. Der Vater ist im Zweiten Weltkrieg gefallen. Die Dienstwohnung in Lüneburg muss die Witwe mit den beiden kleinen Kindern sofort räumen. "Das war eine schlimme Zeit", sagt Gerd Kurse. Der Krieg verloren, die Armee aufgelöst, Rente und Pension gibt's nicht. Die Postkarte mit dieser Nachricht hat er noch. Anfang der 50er-Jahre kommt eine Nachzahlung. Die Hälfte frisst die Steuer. In Erinnerungen wühlen sei schweißtreibend, sagt er, und greift zum Taschentuch.

Ein paar Jahrzehnte weiter. Gerd Kruse ist auf dem Weg in die gehobene Beamtenlaufbahn. Wird Regierungsinspektor z. A., kurz für "zur Anstellung". Behördenintern verballhornt zu "Zur Ausnutzung" bei Männern, "zum Angucken" bei Frauen.

Die Frauen. Überhaupt, sagt er, könnten wir das Thema ein bisschen klein halten? Dass Frauenstimmen hier nicht so gut tragen von den Lautsprechern vor dem 40 Meter hohen Flaggenmast rüber zu den Schiffen, sei die eine Sache. Die Frauen in seinem Leben eine ganz andere. Es gab da mehrere, sagt er. Seiner letzten geschiedenen habe er es zu verdanken, dass er diesen wunderbaren Freizeitjob hier gefunden habe. Sie hatte im Wedel-Schulauer Tageblatt davon gelesen, fand, es sei ihm wie auf den Leib geschneidert. Auch wenn es mit der Ehe nicht klappte, sie muss ihn zumindest gut gekannt haben.

Fünfzig Minuten sind fast schon rum. Gerd Kruses Leben wird zu einem Parcourslauf durch Hamburgs Behörden. Gesundheitsbehörde, Finanzbehörde am Gänsemarkt. Der Schnellbahnbau, die U-Bahn von Billstedt nach Stellingen, die Harburger S-Bahn, die Gründung des HVV. "Und ich als kleiner Sachbearbeiter immer mittendrin." Er wird Regierungsrat. Dann die Polizeibehörde. Erlebt vom Schreibtisch aus den Hamburger Kessel und die Pinzner-Affäre. Als der Mörder Werner Pinzner während eines Verhörs mit einer eingeschmuggelten Pistole zwei Menschen und sich selbst erschießt. Senatoren müssen gehen. Das waren schon heiße Geschichten damals, sagt Kruse. 1988 wird er Ortsamtsleiter in Stellingen. Ein "Stadtteilbürgermeister", jovial, beliebt, ideenreich. Das alte Rathaus Ecke Basselweg und Koppelstraße wird unter seiner Ägide saniert, die Neueröffnung mit Polizeiorchester, Bürgermeister Henning Voscherau (SPD) und Stellingern groß gefeiert. Fünf Jahre später geht er in Pension. Neue Zuständigkeiten in der Bezirksverwaltung, Stress, Zoff, Herzgeschichten.

Es gibt da so eine Lebensweisheit, sagt Gerd Kruse. Kleine Chefs und große Untergebene - das funktioniert nicht. Und er sei immerhin 1,90. Ein lautes "Dadadadaa dada" unterbricht ihn. Draußen auf der Terrasse wird es still. Ein Containerriese schiebt sich ins Bild. Dadadadaa dada: "Steuermann lass die Wacht" aus dem Fliegenden Holländer. Die Auftaktmelodie zum großen Begrüßungsritual. 1952 zur Völkerverständigung gegründet und längst eine weltweite Touristenattraktion. Die Nationalhymne? Taiwan, sagt Gerd Kruse. Die erkennt er blind. Hat sie im Ohr. Alle 152 gespeicherten. Nein, 153 jetzt, sagt er schnell. Da gäbe es dieses wunderbare Döntje. Gleich. Nach dem ganzen Durchlauf. "Auf Wiedersehen" wird gespielt. Die Stimme des legendären NDR-Reporters Hermann Rockmann: Hamburg wünscht Ihnen eine gute Reise. Als Nachschlag folgen Zahlen. Von Rolf Jensen aus Karteikarten abgelesen, ins Mikro gesprochen. Und höchst verwirrend. 90 389 Gross Tons sind dabei und 101 411 Tonnen Tragfähigkeit. Was war das bitte noch?

Jetzt aber die Geschichte von der 153. Nationalhymne. Gleich, sagt Gerd Kruse. Erst noch die andere, vom Tag, an dem er "das Blech rausnahm" aus den abgenudelten Kassetten. Sich den Pappkarton unter den Arm klemmte, alles zu Hause auf seinen Computer kopierte, sortierte und dann kam das Beste: Das ganze Musikwerk neu! Das "Dadadadaa dada" und "Muss i denn" oder "Hammonia". Frisch eingespielt vom Polizeiorchester. "Man hat da noch so seine Verbindungen." Die Musiker waren ohnehin gerade vor Ort fürs NDR-Hafenkonzert, "die älteste Rundfunksendung der Welt auf 90,3".

Jetzt endlich der Tag, an dem ein Schiff auftaucht. Heimathafen Ulan Bator. Eine Stadt ohne Hafen, aber mit Schiffsregister. Nur das zählt. Wie Basel, erläutert Gerd Kruse. "Mach mal die Mongolei", habe einer der Kollegen ihm zugerufen. Fehlanzeige. Gab es nicht. Ein Besucher kommt zum Klönen in die Kabine. Hört das Leid, erzählt, dass er sich demnächst auf die Reise macht mit der Transsibirischen Eisenbahn Richtung China. Ulan Bator, habe Gerd Kruse da gesagt. Notbremse ziehen, aussteigen, Hymne kaufen. Es klappte. Ein paar Wochen später war die mongolische Hymne da. Kleiner Presserummel. "Das kann man ja noch", sagt er stolz. Und auch eine Begrüßung in der Landessprache gab es. Eine in Harburg lebende Ärztin aus der Mongolei half aus. Große Völkerverständigung auf schrägen Wegen à la Kruse. Ja, so sei er. "Immer voll reinknien in die Sachen." Manchmal zu viel. Wahrscheinlich seien auch daran seine Ehen gescheitert. Oder sollte er im Herzen ein Seemann sein, der in keinem Hafen länger anlegen kann? Kruse lächelt. Schweigt. Erzählt vom Crashkurs in Sachen Seefahrt, als er hier in Schulau anfing. "Schnappt" sich ein Containerschiff mit einer "tollen Truppe". Der Kapitän deutsch, der erste Offizier und auch der Chief. Der zweite Ing ein Russe, der zweite Offizier ein Filipino, die Matrosen auch. Ein Kapverdianer. Nord-Ostsee-Kanal, Kopenhagen, Malmö, Helsingborg, um Skagen rum, Bremerhaven, Hamburg. Ja, sagt er, verabschiedet und begrüßt werden per Lautsprecher wollte er natürlich auch. Das Schiff lief aus um Mitternacht, kam spät wieder rein. Nach acht Uhr abends herrscht Ruhe in Schulau.

Ein paar Träume hat er noch. Den ganz alten Film "Pfarrer von St. Pauli" mit Gustaf Gründgens hätte er gern. Oder meint er den mit Curd Jürgens? Eine Kreuzfahrt auf dem Traumschiff, der "Deutschland", die damals dabei war, als die "Queen Mary" auslief. Und Gerd Kruse dieses gewisse Kribbeln überkam.

Auf dem Parkplatz steht Nicole aus Oberfranken vor ihrem Bus. Leicht enttäuscht. Dicke Schollen gab es. Aber zwei Schiffe nur. Schlechte Zeiten eben bei Ebbe.