Heike Gätjen trifft jede Woche Menschen aus Hamburg. Heute Raphaël Marionneau, Discjockey.

Das also ist er. Der Mann, der zum Träumen verführt. Seelen auf die Reise schickt. Wohlige Gefühle weckt. Wenn er auflegt, wie es in der Szene heißt. Im Mojo bis zur Schließung des Clubs. Im Kuppelsaal des Planetariums einmal im Monat, im Brahms-Foyer der Laeiszhalle viermal im Jahr. Auf dem Priwall beim Travemünder Sandburgen-Festival war er dabei. Raphaël Marionneau, DJ und Meister der Chill-out-Musik, Begründer des "le cafe abstrait", regelmäßig auf N-Joy zu hören. Mit seinem magischen Sound, der Hamburgs Insiderszene im Griff hat - und viele Frauenherzen.

Wirklisch, sagt er mit diesem netten französischen Akzent, der ihm auch nach sechzehn Jahren in Hamburg nicht abhandengekommen ist. Und sich gut macht. Aber nein, das glaube er nicht. Und Mädchen aus großer Trübsal retten sei schon gar nicht sein Ding. So, wie in dem berühmten Hit "Last Night A DJ Saved My Life". Gar nicht dran zu denken! Seine Musik sei nichts zum Aufpeppen. Nichts für einen schnellen Energieschub, einen Rausch. Melancholisch sei sie manchmal sogar. Mit dem Ziel, "schöne Klänge, Emotionen in die Ohren rüberzubringen", zu einer musikalischen Reise zu animieren. Einer Reise für die Seele. Ein, zwei Stunden lang. Entspannung pur. Und wenn dann - wie unlängst im Planetarium - jemand laut schnarchend abtaucht, sei sein Konzept ja aufgegangen, sagt er lachend. Ein bisschen zu sehr vielleicht.

Ein musikalischer Verführer also. Dieser Raphaël Marionneau. Mit Dreitagebart und leicht amüsiertem Blick aus sanften braunen Augen. Chill-out-Musik nicht kennen! Das sei ja fast so schlimm wie Mojo mit einem weichen J zu sprechen. Also gut, sagt er, das haben wir gleich. Aber erst vielleicht ein Alsterwasser und die Speisekarte. Hot Sushi-Rolls seien hier im Restaurant Maral am Eppendorfer Baum besonders gut. Warm natürlich, nicht scharf. Und für ihn bitte Thunfisch-Avocado-Salat. Keine Angst, sagt er, "ich bin ein Franzose". Die könnten gleichzeitig essen und reden. Von mittags um zwölf bis in den späten Abend. Und er habe Zeit.

Chill-out-Musik nun also. Für Anfänger. Entstanden Anfang der 90er-Jahre in englischen Clubs. Rave-Partys. Hektische Musik zum Abtanzen. Enge, Wärme, drogengeschwängerte Luft. Zum Abdampfen gibt es einen Nebenraum. Mit entspannter chilliger Musik. Zum Abkühlen eben. Das sei seine Musik. Nichts für die Masse. Eine Nische. Couchmusik zum Zuhören und Wohlfühlen. Ein Mix aus Ambient, Downtempo, Trip-Hop, Ibiza-Sounds, Ethno und Klassik. Alles drin und zum Nachlesen bei Wikipedia, sagt er. Im Mojo wird es 1996 als "le cafe abstrait" zum heiß begehrten monatlichen "French Chill-out-Event". Später liegen ihm im Planetarium die Fans zu Füßen. Im wahrsten Sinne des Wortes, 2002 bei seiner ersten "le voyage abstrait". Die Vorstellung durch reine Mundpropaganda ausverkauft. Die Frau an der Abendkasse einem Nervenzusammenbruch nahe. Das totale Chaos. 300 dürfen, 500 kommen, lagern auf Treppen, in Gängen. Ein Kult ist geboren. Staatsoper-Intendantin Simone Young holt ihn in die Laeiszhalle. Zum Chill-out nach den Philharmonischen Konzerten. Und zur Verjüngung der Altersstruktur. Seinem Siegeszug durch die Republik steht nichts mehr im Wege. Und hier, zum Reinhören, sagt er: das neue Album "Les Ambassadeurs 3".

Geschickt macht er das. Und äußerst charmant. Raphaël Marionneau, den Anfang der 90er-Jahre die Liebe nach Hamburg zieht. Wie vom Blitz getroffen. Mit knapp zwanzig Jahren. Zum ersten Mal verliebt. Ein Spätzünder, oder? sagt er. In allem eigentlich. Nie aus der Bretagne rausgekommen. Noch nie geflogen. Eine fremde Stadt. "Aber total genial." Die fremde Sprache. Seine Englischkenntnisse eher dürftig. Drei Monate später ist die Liebe perdu. Nach fast vier gemeinsamen Jahren zwischen Hamburg und Nantes. Sehr schlimm, sehr dramatisch! Er steht auf der Straße. Sucht sich einen Job als Au-pair. Als was? Ja, sagt er, das ist jetzt exklusiv für Sie. Das weiß noch niemand. Eine geniale Zeit. Mit vielen jungen Leuten aus aller Welt in dem Vermittlungsbüro. Eine tolle Familie. Der vierjährige Daniel, der Vater Drehbuchautor und Synchronstimme und heute bekannt als Produzent des Films "Die sieben Zwerge". Nach einem Jahr ist es genug. Eins nur weiß er: Er will auf keinen Fall "wie ein Idiot" nach Hause zurückgehen, bewirbt sich bei Peter Schmidt. Wird zu seinem großen Erstaunen genommen. Denkt, er werde es nie schaffen in dieser renommierten Grafikdesigngruppe - und bleibt fünf Jahre. Wird persönlicher Assistent von Peter Schmidt. Super, sagt er. Unglaublich! Aber immer im Schatten so einer Persönlichkeit zu arbeiten, sei schwierig. Und er, Raphaël Marionneau, sei schließlich auch nicht einfach. Als Freelancer entwirft er Flyer für den Mojo-Club, legt probeweise mal seine Musik auf. Wird schnell zu einem Geheimtipp, zum König der Chill-out-Szene. Ein brotloses Hobby. Die erste CD druckt er selbst. Die Eintrittspreise decken nicht die Kosten. Dann wird er weitergereicht. Für größere Events gebucht. Mittlerweile kann er gut davon leben.

Ein Traum sei das, sagt er. Mit Siebenunddreißig habe er Sachen geschafft, von denen er nie geträumt habe. Als Sechzehnjähriger nicht. Als Praktikant bei seinem Heimatsender Radio Nantes. Platten auflegen mit dem Skript in der Hand. Rock und Pop im Stil des Senders. Und schon gar nicht als Zwölfjähriger, der zu Hause auf dem Flur den Plattenspieler voll aufdreht, seinen Bruder und seine Schwester zum Zuhören zwingen will und sie doch nur zu Tode nervt. Der in einem weit über die Grenzen Nantes' berühmten Chor als Sopran und Solist singt und heilfroh ist, als der Stimmbruch ihn einholt. Er habe eh keinen Bock mehr darauf gehabt. Bizet und Ravel habe er dieser Zeit zu verdanken und seine Liebe zu klassischer Musik. Von seinen Eltern erzählt er, seinem vor zehn Jahren verstorbenen Vater, der es lieber gesehen hätte, wenn er sich auf Grafikdesign konzentriert hätte. Und dann dieser Abend im Mojo. Die Eltern zum ersten Mal dabei. "Le cafe abstrait" vom Feinsten. Leute, die da sitzen und loungen . Sich einfach nur gut fühlen. Da hätten seine Eltern ihn plötzlich verstanden.

Nein, sagt er, er sei kein Mensch, der in der Zukunft lebe, er plane gerade mal bis ins nächste Jahr. Aber die Sache mit dem Älterwerden. Seine Angst jedes Jahr aufs Neue, dass das Interesse an seiner Musik nachlassen könnte. Diese Lust, für andere Leute aufzulegen, sagt er. Wenn aus dieser Leidenschaft erst mal ein Beruf geworden ist, kannst du damit nicht mehr aufhören. Auch mit Fünfzig nicht. Dann bist du zwar out und deine Musik auch ...

Ach, ruft er plötzlich laut. Schluss mit dem Gespräch. Aus. Ende. Sofort. Unser Fotograf Andreas Laible hat sein iPhone in der Hand. Das Handy mit integriertem iPod. Ein Smartphone! Gecrackt oder offiziell? Bei Ebay gekauft oder frei? Was, ne Twincard? Ein Schlagabtausch professioneller Technikfreaks. Das war es denn wohl. Nein, sagt er lachend. Wir machen weiter. Die Sache mit dem Dreitagebart noch. Er hasse Rasieren. Für Veranstaltungen ginge es gerade noch. Aber privat? Ungern. Und seine Freundin stehe glücklicherweise drauf. Ach, Raphaël! Das wird jetzt ein paar Herzen brechen.

Wir lehnen längst am Geländer vor dem Maral. Gucken den Paddlern auf dem Isebekkanal nach. Und irgendwie kommt das Wort Romantik auf. Das, sagt er, müsse er erst mal im iPod aufrufen. Männer hätten es nicht so damit, würden es nicht so gern zugeben. Also wenn man sich zu zweit gut fühle, das sei vielleicht Romantik. Wie an jenem Tag vor der "Amphore". Es schüttet wie aus Eimern. Mit einer Freundin rettet er sich in den nächsten Hauseingang. Für fünf lange herrliche Minuten. Große Nähe. Regen. Der Blick auf den Hafen. Und beide pitschnass. Pure Romantik. Oder reiner Zufall, sagt er schnell. Dieser Mann, der andere so gern zum Träumen verführt. Und es sich selber nur zögernd zugesteht.