Heike Gätjen trifft jede Woche Menschen aus Hamburg. Heute Florian Waldvogel, Direktor des Hamburger Kunstvereins

Wie geht denn das nur zusammen!? Dieser Mann ist voll da. Und gut drauf. Hier im Bistro Pane e Tulipani in der Markthalle am Klosterwall. Und trotzdem nicht angekommen in der Stadt, wie er sagt. Nicht, weil der Maler noch in seiner neuen Wohnung ist. Die Bücherkisten nicht ausgepackt sind. Der Futon noch zusammengerollt im Kofferraum liegt. Er hat sich Hamburg einfach noch nicht genug erschlossen, um genau zu wissen, wie er seine Pläne fürs nächste Jahrzehnt umsetzen soll: das Haus der Stadt hin zu öffnen. Florian Waldvogel, der neue Direktor des Hamburger Kunstvereins.

Nein, umkrempeln wolle er gar nichts. Der älteste Kunstverein Deutschlands habe sich der Vermittlung zeitgenössischer Kunst verschrieben und unter seinem Vorgänger Yilmaz Dziewior großes Renommee erlangt, und das will er natürlich so weiter machen. Aber neue Impulse will er setzen. Dafür müsse er die Institutionen, er sagt Communities, der Hansestadt genau kennenlernen. Überall hingehen. In Kindergärten, Schulen, Kirchen. Sich Sorgen und Nöte anhören und auch das, was gut läuft. Einfach recherchieren, was die Stadt so braucht. Er habe schließlich einen gesellschaftspolitischen Auftrag, eine Verpflichtung. Und dabei ginge es nicht um seinen persönlichen Geschmack.

Er hat große Worte drauf. Dieser Mann, der als Paradiesvogel gilt. Als Enfant terrible im Kulturleben. Ach was, sagt er. Die Sache mit dem Paradiesvogel verfolge ihn schon seit seiner Kindheit. Diese "Späßchen" mit seinem Namen. Waldvögelchen. Vogel im Wald. Das Übliche eben. Wegen der Flora und Fauna in seinem Namen. Und das mit dem Enfant terrible habe sicherlich eher was mit seinen wilden Jugendjahren zu tun. Gucken Sie mich doch an, sagt er. Seh' ich nicht eher spießig aus?

Eigentlich nicht. Aber er ist ein sehr behaglicher, unkomplizierter und verhalten charmanter Gesprächspartner. An diesem Nachmittag vor den Feiertagen und zwischen den Jahren. Das Bistro hat er zu seinem Büro unfunktioniert. Sitzt da mit Notebook und drei Mitarbeiterinnen, die er mitgebracht hat, und macht mal kurz Pause für unsere Verabredung.

Womit also wollen wir anfangen? Mit den wilden Jugendjahren oder dem, was er in Hamburg umsetzen möchte? Mit einer Zigarette, sagt der bekennende Raucher. Roth-Händle mit Filter. Und Biertrinker. Rothaus. Heimische Marken. Ein Badenser durch und durch sei er. Und wie sind die so? Ja, sagt er genüsslich grinsend. Wie die Weine aus dem Badischen. Warm, rund im Geschmack, locker im Abgang, gehaltvoll. Oder? Keine Ahnung. Großes Gelächter.

"Just do it!" könnte das Motto für seinen Auftakt in Hamburg sein. Dieser Nike-Werbeslogan, der schon der Titel einer erfolgreichen Ausstellung in Linz war. Einer Auseinandersetzung mit Ikonen und Logos aus der Konsumgütergesellschaft. Das habe er von seinem Lehrer an der Städelschule in Frankfurt, Kasper König, übernommen. Der habe es "learning by doing" genannt. Lernen durch Handeln. Erst loslegen und nachher drüber reden. So sei er damals auch ins kalte Wasser gestoßen worden. Als der Meisterschüler von Kasper König Projektkoordinator bei der Expo in Hannover 2000 wird. Verwickelt in endlose Diskussionen mit Architekten, Ingenieuren, Stadtplanern und Baufirmen - in einer Fachsprache. Aber man wachse dran, sagt er.

Seine wilden Jahre also dann. Mit sechzehn von der Schule geflogen. Wegen wahrlich "grottenschlechter" Leistungen. Hormonwechsel, sagt er lakonisch. Chemische Reaktionen im Hirn. Auch die Lehre zum Einzelhandelskaufmann bricht er ab. Zweieinhalb Monate im Keller eines Tennisshops sitzen und Tennissaiten zum Verpacken abrollen. Sinnloses Geacker! Mit Siebzehn wirft ihn seine Mutter zu Hause raus. Er fühlte sich verstoßen, sagt er. Heute weiß er, dass es eher Selbstschutz war. Um sich nicht gegenseitig zu zerstören. Ein schwieriges Umfeld. Der Vater alkoholkrank, unstet, mit wechselnden Berufen, immer wieder auf Entzug. Die Mutter, eine Lehrerin, allein verantwortlich für Lebensunterhalt und Erziehung der beiden Söhne. Sein jüngerer Bruder angepasst. Er, der Regellose, Aufmüpfige, Quertreiber. Der gegen den Schatten des Vaters ankämpft, bis zum 23 Lebensjahr keinen Alkohol trinkt, sich spät von der Angst lösen lernt, wie sein Vater zu werden.

Ja, sagt er, er habe Glück gehabt. Er hätte auch als Hartz-IV-Empfänger enden können. Allein seiner Mutter habe er die gesunde Basis zu verdanken. Ein intellektuelles Umfeld, eine bestimmte Erziehung. Und vor allem eine gewisse Geborgenheit. Alleinerziehende Mütter, sagt er eindringlich. Das seien für ihn die wahren Heldinnen. Die es trotz widrigster Umstände schafften, Geborgenheit weiterzugeben. Die ökonomische Not abzufedern. Und, fragt er, wo bekommen die ihre Sehnsucht nach Geborgenheit erfüllt? Allein deswegen schon werden die Hamburgerinnen diesen Badener Import lieben.

Das alles wisse man erst heute, mit dem Abstand von zwanzig Jahren, zu schätzen, sagt er dann. Und deshalb finde er es so wichtig, seinem sechzehnjährigen Sohn Isaac aus erster Ehe klarzumachen, dass das, was der gerade für Freiheit hält, eine Pseudofreiheit, eine Seifenblase, sei. Dass er die Schule zu Ende machen müsse, um wahre Entscheidungsfreiheit zu haben. Tja, was Väter so zu ihren Söhnen sagen.

Nach dem Rauswurf steht Florian Waldvogel auf der Straße. Wird von einer älteren Frau, die er bei einer Ausstellungseröffnung kennengelernt hat, aufgenommen und aufgefangen. Akzeptiert mit all seinen Widersprüchen, Problemen. Sie gehen zu Ausstellungen, reden viel über Kunst und auch darüber, wie man seine Probleme kontrolliert und verarbeitet. Die Rolle "Die Frau und das Kind" ist ja eigentlich eine gesellschaftliche Konstruktion, sagt er plötzlich. Wie die von Mutter und Sohn.

So ist das mit Florian Waldvogel. In Nullkommanichts hängt man drin in gesellschaftspolitischen Diskussionen, dem allgegenwärtigen Scheitern politischer Ziele, Auswüchsen des Kapitalismus, Kinderarbeit, Weltfrieden, der Aufarbeitung der Shoa, des Holocaust. Das Thema dürfe man einfach nicht beenden, sagt er. Andere wegen ihrer Religion oder Ethnie umzubringen. Was für eine perfide Willkür. Dem könne er nicht folgen. Immer noch nicht. "Ich bin immer noch sprachlos." Danach fällt es sehr schwer, zu seinem Neubeginn in Hamburg zurückzukehren. Aber ja, sagt er, das machen wir über Essen. Da habe er das Schwimmbadprojekt durchgezogen. In einem öffentlichen Schwimmbad Koch-, Jugend-, Graffitiworkshops veranstaltet. Aus einem kulturellen Brachland eine kulturelle Begegnungsstätte geschaffen. Oder in Frankfurt das Skateboardprojekt. Illegal aus dem Boden gestampft. Ein Politikum, aus dem letztlich eine öffentliche Parkanlage wurde. Ein bisschen Aufmischen, ja, das täte er gern. Das sei auch sein Auftrag. Und einer seiner Pläne. So wie der, Studenten an der Kunstschule praxisnahen Umgang mit der Kunst zu vermitteln. Schließlich habe er ja auch in Frankfurt Kunstvermittlung studiert und dieses Wissen als Kurator umgesetzt. In der Kokerei Zollverein in Essen. Bei der europäischen Biennale Manifesta in Zyperns Hauptstadt Nikosia, und zuletzt in Rotterdam am Witte de With Center for Contemporary Art. Politisch engagierte Kunst, kritisch auch und voller Utopien. Dass die Welt besser sein kann, als sie ist, sagt er. Er wisse, das höre sich nach Kitsch an. Aber er glaube daran.

Seine zweite Frau, eine Journalistin aus Zypern, hat er bei einem Interview kennengelernt. Passen Sie bloß auf! Er erzählt, dass sie mit der gemeinsamen 14 Monate alten Tochter Lilly jetzt auch dort bei den Großeltern wohnen wird. Ein stabiles Umfeld hat. Eine große Familie, einen großen Garten, Sonne. Ein weiser gemeinsamer Entschluss, aber schon schwierig. Das tägliche Skypen könne einfach keine Nähe ersetzen.

Und dann muss er weitermachen. Seine drei Damen warten schon. Die letzte Frage noch. Einen klassisch-dominanten Arbeitsstil solle er haben, heißt es. Ja? fragt er, und was ist das? Keine Ahnung. Ein bisschen Machogehabe vielleicht? Fragen Sie doch mal an der Quelle nach, sagt er lachend. Nein, sagt Beate Anspach, die künftig für die Presse und Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist. Ein Macho sei er nicht. Das beinhalte ja eine gewisse Attitüde. Aber dominant ganz sicher. Gestützt auf Wissen und Entscheidungskraft. Das hört sich doch ganz gut an. Für das endgültige Ankommen in Hamburg.