Im größer werdenden Europa bekommt der Begriff Grenz- Erfahrung eine neue Bedeutung. Andreas Greve aus Hamburg fuhr einmal rund um Deutschland - eine Entdeckungsreise zu den Narben der Geschichte.

Grenze. Das im 13. Jahrhundert aus dem Westslawischen entlehnte greniz'e' hat sich von den östlichen Kolonisationsgebieten aus allmählich über das deutsche Sprachgebiet verbreitet und das heimische Wort Mark verdrängt. Aus "Duden Etymologie", Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache

Man sollte seine Grenzen kennen. Sagte sich Andreas Greve, 51. Der Hamburger Reiseautor packte seine Siebensachen in einen Renault Kastenwagen und fuhr los. In 80 Tagen rund um Deutschland (so auch der gleichnamige Buchtitel), am Rand des Landes, an den Grenzen entlang. Er machte Grenzerfahrungen - und spürte die kleinen und großen Unterschiede zwischen ein paar Metern diesseits und jenseits auf. Eine letzte Grenzpatrouille, gerade rechtzeitig, bevor sich in ein paar Wochen die Europäische Union weit nach Osten verschieben wird. "Der Begriff von Grenze, mit dem wir hierzulande aufgewachsen sind", ahnt Greve, "wird in den nächsten Jahren verschwinden."

Einmal rund um Deutschland, gegen den Uhrzeigersinn. 80 Tage (Jules Verne lässt grüßen) aus dem Koffer leben. Ankommen und Wegfahren. Heimatlosigkeit in voller Absicht. Rein rechnerisch sollen es 3757 Kilometer sein. Nur lassen sich Grenzen nicht abfahren, sondern nur kreuzen. Es gibt keine Buslinie 1, die Deutschland an der Peripherie umrundet. So verdoppelte sich die Streckenlänge bei Greves Abenteuer schnell auf 8000 Kilometer.

Als Start- und Zielort hat Greve Aachen gewählt. Mit Bedacht. Schließlich ist Aachen der Anfang Deutschlands - im Alphabet -, und hat auch geschichtlich einiges zu bieten. Zum anderen lag die Stadt einmal im Zentrum Europas, wurde nach dem Krieg aber plötzlich in eine Randlage gedrängt. Sie träumt von einem Dreiklang mit den Nachbarstädten Maastricht und Liège. "Das klappt erst", glaubt Greve, "wenn die europäische Zusammenarbeit infrastrukturell noch mehr angegangen wird."

Ob Trier oder Rastatt, Berchtesgaden oder Passau, Görlitz oder Flensburg - Grenzstädte sind Randlagen. Oder, wie der Schweizer Europa-Verfechter Christian J. Haefliger über Grenzen sagte, "Narben der Geschichte". Wirtschaft, Kultur und Infrastruktur eines Landes schwächen sich zu den Rändern hin ab. Greve merkte bald, dass es nicht mal vernünftiges Kartenmaterial für Grenzregionen gibt. Erst die Radfahrer, die solche Gebiete oft zuerst erobern, haben Karten, auf denen die Grenze in der Mitte liegt.

Und wie sind sie nun, die deutschen Grenzlagen? "Teilweise angenehm ruhige Gegenden, wo wirklich nicht viel passiert", sagt Greve und nennt als Beispiel das Dreiländereck an der Donau im Bayerischen Wald. "Das ist der letzte Winkel von Bayern, das letzte Eck von Österreich und der letzte Ausläufer von Tschechien." Das wird sich ändern.

Im entgegengesetzten Winkel, in der friesischen Region am Dollart - Emden, Leer, Groningen - ist das schon geschehen. Diese Ecke zählt zu den am dünnsten besiedelten Gebieten, hier hat sich aber schon früh eine Form von Zusammenarbeit über die Grenze hinweg etabliert. Das historische "Rheiderland" gilt als Herz der friesischen Stammeszusammenschlüsse - aber die Grenze geht mitten hindurch. "Links wohnen Leute, rechts wohnen Leute. Im Osten heißt es Dollart, im Westen Dollard", erzählt Greve. "Man spürt einen Zusammenhang trotz aller Unterschiede." Im Rheiderland gibt es zwölfjährige Kinder, die nicht mehr wissen, was eine Grenze ist.

Deswegen sollen die Menschen aus dem Rheiderland für die EU in Bulgarien, aber auch in Tschechien und der Slowakei beim Abbau von Grenzen helfen. "Eine absurde Situation", findet Greve. "Das Erste, was Tschechen und Slowaken nach ihrer Unabhängigkeit gemacht haben, war, wie verrückt Grenzen aufzubauen, während sie im Westen Europas in Jahrzehnten mühsam niedergearbeitet wurden."

Viele Grenzen wurden willkürlich mit dem Lineal gezogen. Aber obwohl beiderseits eine ähnliche Bevölkerungsgruppe lebt, wirkt jedes Land mit seiner Geschichte bis an die Grenze. "Ich konnte zu jeder Zeit sagen, auf welcher Seite ich bin." Im Saarland etwa gibt es hier wie auf der französischen Seite eine moselfränkische Prägung. Und doch fühlte sich Greve zweifelsfrei auf der deutschen Seite. Das hat auch mit dem Wiederaufbau zu tun: "Die Deutschen hatten in den Sechziger-Jahren eben das Geld."

Und es geht auch um den Habitus. Im Waldviertel in Niederbayern spürte es Greve sofort, als er nach Österreich kam. "Man muss nicht in Andalusien die Kastagnetten klappern hören. Fremde lässt sich schon relativ nah spüren." Oder die Landschaft verrät sich. Polen, wie überhaupt der Osten, beeindruckt mit seiner Artenvielfalt. "Es gibt viel mehr verschiedene Gräser. Man könnte auch sagen, es ist ein wenig unaufgeräumter." Wie lange noch?

Nur einmal war sich Greve nicht sicher. "Ich habe ein Foto mit einem lavendelfarbigen Feld - wahrscheinlich ist es Schnittlauch -, da weiß ich nicht: War ich in Dänemark oder in Schleswig-Holstein?" Die Unterschiede sind hoch im Norden wohl am geringsten, weil sich die Grenzen mehrmals verschoben und die Völker vermischt haben. Der dänische Einfluss reichte bis in Greves Heimat nach Altona.

Nach wie vor ernten die Deutschen von ihren Nachbarn keine Bestnoten in Sympathie. "Es kommt auf das Auftreten an, und da sind die Deutschen leider nicht hoch talentiert", weiß Greve. "Obwohl sich nicht mehr die Kriegsgenerationen gegenüberstehen, wachsen sich Vorurteile im Alltäglichen nur langsam heraus. Und historisch bleibt es in den Genen." Er erzählt das Beispiel von einer ehemaligen Freundin und deren Tochter in Dänemark. Die Kleine war sechs Jahre alt, als Freunde zu Besuch kamen und sie sagte: "Das ist Andreas, der ist Deutscher, aber der ist ganz süß!"

An der tschechischen und polnischen Grenze gibt es gegenüber der deutschen Sprache die größten Empfindlichkeiten. Immerhin zeugt die doppelte Namensnennung auf einigen Landkarten schon von Respekt.

So wie Sprache und Geschichte trennen, vermittelt die Fahrt entlang der Grenze auch, wie rasch Land und Kontinent an anderen Stellen zusammenwachsen: die "Aldisierung" Deutschlands, ja Europas ist ungebremst. Im Aldi Lothringen kaufte Greve wunderbare lose Butter, köstlichen Käse, preiswerten Rotwein. Zwei Schauspielschüler in Maastricht, der eine Holländer indonesischer Abstammung, der andere belgischer Flame, brachten zum Gespräch eine Aldi-Tüte mit. Und in Luxemburg stand in der Zeitung, dass am Tag zuvor in Grevenmacher ein Supermarkt überfallen worden war. Das Bild verriet: Es war ein "Aldimarche" mit dem gleichen Weiß, Rot und Blau wie luxemburgische Streifenwagen.

Landschaften und Menschen, hat Greve im Selbstversuch gelernt, bedingen einander. Im tiefsten dunklen bayerischen Wald wurde ihm klar: "Ich werde nie ein Freund der Tanne." Der Norddeutsche liebt den offenen Mischwald aus Buchen und Kiefern mit hoch gewachsenen Stämmen. Den schönsten fand er in Mecklenburg-Vorpommern oder in Dänemark: "Ein Buchenwald, der bis an eine kleine Steilküste geht - und dahinter das Licht des Meeres. Ein Traum!" Und als er das Erzgebirge hinter sich hatte, als die Flüsse wieder so breit wurden, dass sie ihn an die Elbe erinnerten, als die Landschaft so eben wurde, dass der Himmel wieder eine größere Bedeutung bekam, als sich die Menschen wieder anschwiegen, da spürte er plötzlich wieder so etwas wie ein Heimatgefühl. Ein Gefühl, das im Übrigen jeder kennt, der abends in seine eigentlich öde Straße einbiegt und doch weiß: Hier bin ich zu Hause!

Der neu-belgische Autor Dietmar Sous schreibt über seine Wahlheimat: "Hier möchte ich für immer bleiben." Greve nicht. Wenn er sich als chronischer Berufskosmopolit überhaupt einen neuen Lebensstandort suchen müsste, wäre es Luxemburg, weil es am europäischsten ist: gefällig, gemütlich, gut strukturiert und überschaubar. "Wichtig ist, wenn ich zufällig mal ,zu Hause' bin, dass ich das nicht zwei Millionen Menschen mitteilen muss, sondern vielleicht nur 50 000."

Der Körper sucht das Idyll, der Kopf kann auch das unwirtlich Fremde erforschen. Zu Studienzwecken würde Greve gern für ein Jahr nach Zittau gehen und von dort Wege nach Prag oder Breslau erkunden. "Zittau ist eine sehr schöne Stadt in einer sehr reizvollen Landschaft, der nur das Meer abgeht, dicht an Bergen, aber auch dicht an den Flusslandschaften von Oder und Neiße, dicht an dem von Menschenhand ausgeraubten Kohlerevier Lausitz. Eine Stadt, von der man nicht weiß, ob es die erste Stadt im Osten oder die letzte im Westen ist."

  • Andreas Greve: In achtzig Tagen rund um Deutschland. Hoffmann und Campe, 333 Seiten; 19,90 Euro.