In diesem Jahr wäre der große norwegische Dichter und Literaturnobelpreisträger Knut Hamsun 150 Jahre alt geworden. Höchste Zeit, den Klassiker wieder zu entdecken.

Zurzeit streiten die Norweger heftig über ihren verhinderten Nationaldichter Knut Hamsun, und das natürlich wegen seines 150. Geburtstags, der dieses Jahr gefeiert wird. Landesweite Proteste schließt das keineswegs aus. Hamsuns Name ist wegen seiner Parteinahme für Hitler und die Nationalsozialisten besudelt, da kann sei Werk noch so stilbildend für die literarische Moderne sein. Er ist unrettbar verloren als Identifikationsfigur. Gefeiert wird er trotzdem, bei den vielen Veranstaltungen für den am 4. August 1859 in Gudbrandsdalen als Knud Pedersen geborenen Hamsun ist sogar Prinzessin Mette-Marit Schirmherrin.

Seines Ruhms als Schriftsteller erinnert man sich im runden Geburtstagsjahr also nachdrücklich. Zu Recht, der Klassiker und Literaturnobelpreisträger hat ein einzigartiges Oeuvre hinterlassen, in dem noch vor den großen Stücken "Mysterien" (1892) und "Pan" (1894) das 1890 erschienene "Hunger" eine literarische Kostbarkeit ist. Während "Pan", der Roman über den liebenden, naturverbundenen Einsiedler, in einer Neuübersetzung (bei Manesse in München) erscheint, legt Claassen "Hunger" wieder auf.

Es war damals ein Redakteur der dänischen Zeitung "Politiken", der den völlig abgerissenen und derangierten Hamsun rettete, als der 1888 sein noch nicht fertiges Manuskript bei ihm vorlegte. Was der Redakteur vor sich hatte, zog ihn als ersten Leser dieses seither unübertroffenen Romans über einen verlorenen Hungerleider in den Bann.

"Es war zu jener Zeit, als ich in Kristiana umging und hungerte, in dieser seltsamen Stadt, die keiner verlässt, ehe er von ihr gezeichnet ist ...", so lautet der berühmte erste Satz, der dem Leser ein Drama eröffnet, in dessen Verlauf der Held, dessen Namen wir nicht erfahren, in einen Kreislauf von Armut, Verzweiflung, Wahnsinn, Hoffnung, Lebensgier und Liebe gerät. Dabei ist der Hunger die alles verschlingende Bedingung, die jedem Erlebnis eine existenzielle Wichtigkeit gibt. Nie zuvor (und auch nicht danach) wurde die Empfindung des Hungers so schmerzend scharf geschildert. Die Handlung des Romans ist um dieses eine Motiv aufgebaut und schöpft seine Spannung aus der ewigen Suche des Überlebenskünstlers nach etwas Essbarem. Er streunt durch die Stadt Kristiana, die heute Oslo heißt, und geht rastlos von einem Ort zum nächsten. Mal schläft er im Wald, mal in einer heruntergekommenen Kammer, mal in einer Mansarde auf dem Fußboden. Er ist ein völlig verarmter Intellektueller, der seine Texte meist erfolglos bei Zeitungen anbietet. Freunde hat er keine, nur Bekannte, bei denen er selten genug um Hilfe nachfragt. Denn unser Held ist stolz bis zur Würdelosigkeit. Nie würde er sich als Obdachlosen, als Bedürftigen oder Bittsteller sehen. Lieber trägt er seine allerletzten Besitztümer ins Pfandhaus, als auf die Barmherzigkeit anderer zu bauen. Ein Porträt des Künstlers als armer Mann wird hier gezeichnet, und weil er ein Hungerkünstler ist, treffen wir ihn manchmal in Zuständen an, in denen er tagelang nichts isst. Einmal bittet er einen Metzger um einen Knochen, angeblich für seinen Hund. Er nagt ihn selbst ab. Sein Magen schleudert die unverhoffte Kost sofort hinaus. Als wäre selbst das Organ zu stolz für Almosen. Die Zustände des Mannes gleichen dem Wahnsinn. Der Hunger zermürbt seinen Verstand - oder hievt ihn in Bewusstseinssphären, die bar jeder Vernunft sind.

Die Reflexionen und inneren Monologe rufen beim Leser höchstens zu Anfang ein dezentes Schmunzeln hervor. Da vermutet man noch Schilderungen aus dem Leben eines Taugenichts und lässt sich auf die Fährte des pikaresken Romans, des Schelmenromans ziehen. Diesen Weg, es ist ein bequemer, verlassen wir alsbald. In "Hunger" wird die menschliche Tragödie, die sich im Kopf dessen abspielt, der mehr sein will als er ist, eindringlich beschrieben. Denn es ist auch der Hunger nach Anerkennung, der den gebildeten jungen Mann an- und umtreibt. Eitelkeit und Größenwahn wechseln sich mit Selbstkasteiung ab. Er will als wertvoller Teil der Gesellschaft wahrgenommen werden, befeuchtet die abgewetzten Knie mit Spucke, damit er manierlicher aussieht. Er möchte etwas gelten und wird wegen dieser Handlungsanleitung zum Neurotiker, für den die Regeln des sozialen Miteinanders nicht mehr gelten. Er nimmt die anderen nicht mehr als Ganze wahr, sondern nur noch als Projektionsflächen seiner Auferstehungsfantasien. Wenn man voraussetzt, dass der Schreibende an sich keinen normalen Platz in der Gesellschaft beansprucht, in seiner Beobachterhaltung ein Außenstehender ist, dann ist der widersprüchliche Held ein Gaukler, dessen Streben einer Schimäre hinterherhechelt.

Am Ende reflektiert er die Hoffnungslosigkeit seiner Lage und heuert als Matrose an.

Was gewinnt man durch die Lektüre von "Hunger"? Vielleicht zunächst die grundlegende Einsicht in philosophische Zusammenhänge: "Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will", hat Schopenhauer gesagt. Hamsuns Held handelt wirr, sein größter Reichtum ist seine Fantasie. Seine Beobachtungsgabe, derer er sich immer wieder rühmt, ist von bestechender Klarheit. Trotzdem ist er ein Münchhausen. Seine Fabulierkunst, mit der er, der Egozentriker, seine intellektuelle und gesellschaftliche Noblesse behaupten will, hilft ihm, sich die trostlose Realität vom Leib zu halten. Doch egal, ob er im Hungerrausch oder bei klarem Verstand den Droschkenfahrer foppt und Parkbesuchern Geschichten vom Zimmervermieter "Happolati" erzählt - man weiß nie genau, warum er das tut, warum er so handelt und nicht anders. Die psychologischen Notwendigkeiten werden nie vorbuchstabiert, es bleiben Lücken. Ganz ähnlich, nämlich ohne Motive, kommen später die Figuren Kafkas oder Becketts aus. Das war die literarische Wucht, die Hamsun, der Neuerer, entfaltete: Er erzählte von desaströsen Lebensverhältnissen, ohne auch nur den leisesten moralischen Appell zu formulieren. Die Dringlichkeit der Naturalisten Ibsen, Zola und Hauptmann war ihm fremd.

Hamsuns Held ist keine sympathische Figur (das hat er mit seinem Schöpfer gemein), und trotzdem wünscht man ihm Erfolgserlebnisse. Doch wenn sich die einstellen, versaut sich der Rätselhafte jedes Fortkommen selbst. Die Liebe, die ihm in Person einer von ihm "Ylajali" getauften Dame erscheint, vergrätzt er mit seinem narzisstischen und ungeschickten Verhalten.

Ein Künstler hat Hunger auf seine Schöpfung und auf Anerkennung, nicht auf Liebe.