Eigentlich dürfte es sie gar nicht geben - aber ihre Zahl geht in die Tausende: die Kinder von Priestern. Sie sind in einem Teufelskreis aus Schuld und Scham gefangen, nur wenige brechen das Tabu. Und die Väter? Sie müssen sich noch immer zwischen Kirche und Familie entscheiden.

Vor einem Jahr, im Februar 2003, verteilte der 33-jährige Olivier Flugblätter in den Briefkästen seiner Gemeinde. Die Bewohner des 825-Seelen-Ortes staunten nicht schlecht, was sie auf den Zetteln zu lesen kriegten. "Ihr findet es vielleicht widerlich", schrieb das älteste von drei unehelichen Kindern, "dass ich jemanden oute, den ihr schätzt. Aber heute habe ich es satt, dass diese Person ruhig leben kann, während ich gelitten habe und immer noch unter der Situation leide."

Olivier hatte mit diesem Flugblatt öffentlich bekannt gegeben, wer sein Vater ist: der inzwischen 80 Jahre alte Pater Jean M. Ein Einzelfall? Der sich noch dazu im Nachbarland Frankreich abgespielt hat? Nein, auch in Deutschland gibt es viele Priesterkinder. Nur: Die wenigsten von ihnen gehen offensiv an die Öffentlichkeit.

Die Zahl der Sprösslinge von katholischen Geistlichen, so schätzen Betroffeneninitiativen, geht in die Tausende. Und rund die Hälfte der fast 17 000 deutschen Gottesmänner soll sexuelle Beziehungen haben. Die Kirche zieht diese Zahlen - nicht verwunderlich - in Zweifel.

Die Söhne und Töchter dieser Väter aber, die über weite Strecken ihres Lebens hatten schweigen müssen, beginnen nun mehr und mehr zu sprechen. Olivier aus der Normandie wählte dafür die Form der Anklage. Als würde ein Verbrecher gesucht.

Andere wollen einfach nur endlich Gehör finden. Sie brechen damit ein Tabu. Und sie brechen aus jahrelang geübten Verhaltensmustern aus, die die meisten von ihnen als Kinder trainieren mussten: Vertuschen, verheimlichen, verleugnen. Es gehört viel Mut dazu, den Teufelskreis aus Schuld, Scham und Sünde, in dem sich die Eltern oft gefangen fühlten, in der nächsten Generation zu durchbrechen.

Die "Spiegel"-Redakteure Annette Bruhns und Peter Wensierski haben im Herbst 2002 begonnen, diese Menschen zu porträtieren. Das Buch "Gottes heimliche Kinder - Töchter und Söhne von Priestern erzählen ihr Schicksal", das Mitte Februar 2004 auf den Markt kam, war bereits nach einer Woche vergriffen. Der Verlag kam mit dem Nachliefern kaum hinterher - nach einer weiteren Woche musste die dritte Auflage gedruckt werden.

Fünfzehn Lebensgeschichten enthält der Band. Die von Günter (60) zum Beispiel, der sagt: "Aus der Sicht der Kirche bin ich eine Sünde, aus meiner Sicht bin ich eine Freude." Die ersten Jahre bei einer liebevollen Pflegemutter gaben ihm das Fundament. Mutter und Stiefvater holten ihn mit neun auf ihren Hof, wo er, bis er 27 war, als Knecht schuften musste. Mit 36 hat er seinem leiblichen Vater zum ersten Mal in die Augen geblickt. Und der über Siebzigjährige erzählt dem Sohn, überwältigt von Erinnerungen, dass "die Resi, deine Mama" ein bildschönes Mädchen war, beschreibt ihre Brüste, ihre Augen, ihre Haare, ihren Mund. Und der Sohn spürt, wie viel Liebe in dieser Schilderung liegt. Günter ("Ich bin ein Mensch, der ned hat sein sollen") sagt von sich heute: "Ich bin glücklich. Glücklich mit meiner zweiten Frau, glücklich in meinem Beruf als Lokführer."

Nicht alle Priesterkinder können das von sich sagen. Anna (15) berichtet, wie oft sie stottern und stammeln musste, wenn sie in der Schule nach dem Beruf des Vaters gefragt wurde. Der hatte die Mutter nach 13 Jahren heimlicher Beziehung wegen einer anderen verlassen. Die Tochter fasst bitter zusammen, ihre Eltern hätten nie miteinander schlafen dürfen - "dann gäbe es mich nicht, und allen ginge es besser".

Wut und Ohnmacht schimmert bei vielen dieser Erfahrungsberichte durch. "Am größten war die Wut allerdings bei jenen", sagt Buchautorin Annette Bruhns, "auf denen das Tabu besonders lange gelastet hat." Therapeutische Hilfe holte sich nur ein Drittel der Befragten. Und selbst dann sagten die meisten, der Psychologe hätte ihnen nicht wirklich helfen können. Annette Bruhns: "Viele denken vielleicht auch: Eigentlich müssten meine Eltern zur Therapie!"

Der ganzen Gemeinde spendet ein Geistlicher seine Fürsorge. "Für andere spielen die Priester den Vater", sagt Anna, "meiner darf das aber nicht für sein eigenes Kind sein." Wenn ein Priester sich zu seiner Frau und seinem Kind bekennt, muss er, so fordert es die katholische Kirche, sein Amt aufgeben. Er verliert seinen Beruf, sein finanzielles Auskommen und hat meistens große Schwierigkeiten, eine neue Arbeit zu finden - die Kirche als Arbeitgeber stellt ihn nicht mal mehr als Religionslehrer ein.

So ging es Anton Aschenbrenner (41), dem Pfarrer aus dem Bayerischen Wald, der am 31. Januar 2003 die evangelische Religionslehrerin Birgit (38) geheiratet hatte und am 5. April Vater wurde: Da kam Dorothea zur Welt - der Name bedeutet: Gottesgeschenk. Alle Bewerbungen schlugen fehl, es blieb ihm erst mal nur übrig, Hausmann zu sein, während seine Frau mit ihrem Lehrerinnengehalt die Familie ernährt.

Warum besteht die katholische Kirche auf dem Zölibat? "Weil Menschen", vermutet Aschenbrenner, der inzwischen zum evangelischen Glauben übertrat, "dadurch gefügig werden. Wer nicht in einer Partnerschaft, einer Ehe oder in einer menschlich tiefen Beziehung lebt, der ist letztlich durch die Institution gängelbarer."

Umfragen zufolge wären 80 bis 90 Prozent der Katholiken in Deutschland damit einverstanden, wenn ihre Priester Frau und Kinder haben dürften. Dr. Martin Schubert (50), Pfarrer in München, formuliert, was möglicherweise viele Amtskollegen so oder ähnlich empfinden, öffentlich aber nicht zugeben würden: "Als ein dem Zwangszölibat verpflichteter Priester weiß ich nach 20 Jahren, was diese widernatürliche Lebensform mit sich bringt: bedrückende Einsamkeit in einem leeren Pfarrhaus, Sehnsucht nach Gemeinsamkeit, Angst vor dem Älterwerden, Gefühl des Verlassenseins . . . Ich möchte keinem jungen Menschen raten, freiwillig den Zölibat auf sich zu nehmen, da dieses fragwürdige Opfer letztendlich in keinem Einklang mit den priesterlichen Aufgaben steht."

In der Tat: Es finden sich inzwischen immer weniger junge Männer, die bereit sind, den Priesterberuf auszuüben. Für Deutschland führt die Statistik Ende 2002 noch 16 777 katholische Priester - 10 000 Geistliche weniger als im Jahr 1960. Und: 1983 waren es noch 829 junge Menschen, die in deutschen Bistümern zu dienen bereit waren, 2002 lediglich noch 242. Der Kirche geht der Nachwuchs aus.

Der Nachwuchs der Priester unterdessen muss sehen, wie er Frieden schließt mit der Kirche, mit Gott, mit dem Leben schlechthin und den Eltern im Besonderen. Oft ist der Weg steinig: Einige Kinder waren suizidgefährdet oder nahmen Drogen, andere bekamen Krebs oder Magersucht. Viele wendeten der Kirche den Rücken - wenn nicht sogar dem Glauben.

Und manche können, selbst wenn der Vater sich zu Frau und Kindern bekannte, keine wahre Freude empfinden. Weil der Mann, der so lange in fest vorgegebenen kirchlichen Strukturen gelebt hatte, mit dem plötzlich selbstständigen Leben nicht klarkommt. Leider nehmen die Kinder allzu oft die Last der Vorfahren auf sich: "Ich bin Schuld am Leid meines Vaters."

Den Eltern geht es oft nicht viel besser. Auch sie fühlen sich schuldig. "Ich war erstaunt", berichtet Autorin Annette Bruhns, "wie viel Kritik die Mütter und Väter von ihren Kindern ausgehalten haben." Sie hat alle Texte von den Beteiligten autorisieren lassen. Wenn möglich, auch von den Eltern. "Eines", sagt Annette Bruhns, "wussten sie alle: Mein Gott, was haben wir unseren Kindern bloß zugemutet."