In jeder Stadt gibt es gute und weniger gute Ecken. Damit sie wirklich niemandem wehtun, sind die sehr guten Ecken sogar leicht abgerundet.

Man lustwandle nur mal durch Nienstedten oder Othmarschen, schon spürt man dieses fluffige, flauschige Anschmiegen, dieses weiche, umwickelte Wohlbefinden; hier wohnt man nicht, hier schläft man schon, in einem Wunderland, aus Watte gemeißelt.

Auch an Werktagen pflegt man dort Muße, und in den engen, von alten Bäumen beschatteten Straßen, sind schwarz glänzende Range Rovers und silbergraue Porsche Cayennes so lässig geparkt, dass kein Wärmedämmungsspezialist, kein Alarmanlagentechniker mit seinem Fiat Ducato auch nur in die Nähe des Zielobjektes, eine Villa mit Schnörkeln, anders als auf Zehenspitzen gelangt. Devote Dienstboten huschen gebückt zu schmiedeeisernen Toren, sie lassen sich lange bitten, das Tor einen Spalt zu öffnen. Tag für Tag werden Gärten gewässert, Fassaden gewienert, Dächer vergoldet. So leise wie möglich. Es herrscht nämlich Stille, weil, die ist tatsächlich käuflich. Nur selten hört man leises Geklimper aus der Beletage über die Wiese wehen, wahrscheinlich Chopin. Aber man soll sich nicht täuschen: Die Eigentümer arbeiten hart daran, andere Leute für sich hart arbeiten zu lassen.

Manchmal geht Walter Mück in seiner Freizeit hier spazieren. Er zieht sein feinstes Linnen an, kämmt sich das Haar, wichst die Schuhe und verlässt den Wohncontainer. An der Station Tiefstack steigt er gemein-sam mit einigen verlorenen Seelen Billbrooks in die S-Bahn, eine halbe Stunde später steigt er in Othmarschen inmitten einer Schar gut konservierter, absichtlich blasser Pensionäre wieder aus, in eine andere Welt.

Die Sonne scheint. Lerchen singen. Falls die Sonne nicht scheint, fällt sanfter Regen. Lerchen singen in Moll. Ein wilhelminisch uniformierter Schaffner hält ihm die Tür auf, hebt eine Hand zum Gruß an die Mütze. Der Bahnsteig heißt hier Perron. Blutjunge Blumenmädchen umflattern Mück und die anderen Reisenden, streuen Freesien und Klatschmohn vor gezierte Füße; kleine Verkaufsstände, hinter denen rotwangige Mütterchen Obst, heiße Krapfen und Schaumwein feilbieten, säumen das uralte Bahnhofsgebäude.

Mück atmet tief ein. Seine kohlenmonoxidgeschädigten Lungenbläschen berauschen sich an der nach Platanen- und Eichenlaub duftenden Luft. Wenn er doch hier leben könnte! Andererseits, bei ihm daheim in Billbrook ist es ja auch nicht schlecht. Zum Beispiel sind die meisten Straßen ganz gerade, sodass man weit gucken kann. Das ist wichtig, weil es kaum Ampeln gibt.

Mück geht los. Er marschiert nicht, er lässt sich treiben, an Kilometern Liguster vorbei, schlendert üppig überwucherte Alleen entlang, bestaunt das bronzene Standbild eines Vermögensberaters. Er biegt ab in schmale, verwunschene Sackgassen, schaut dort kleinen Damen in ihren großen VW Touaregs oder Audi Q7 bei Slalomfahrten und Drei-Punkt-Wendungen zu. Die latente Kraft der Acht-Zylindermotoren, die Leichtigkeit, mit der hydraulische Servolenkungen unglaublich breite Vorderräder bewegen, macht ihn vorsichtig. Er drückt sich eng an hohe Buchsbaumhecken, beäugt misstrauisch Versuche, Zweieinhalbtonnen-Geschosse mit schleifender Kupplung zu bändigen. Am Ende geht alles gut, man ist ja ohnehin versichert.

Mück geht weiter. Er lässt sich betäuben von dem Aroma üppigen Zinseszinses, das die Gemäuer der Anwesen ausdünsten, durchquert jahrtausendealte Parks, in denen Windhunde herumlaufen oder kacken, und nähert sich allmählich der Elbe.

Der gemeine Billbrooker denkt vielleicht, es sei das Erstrebenswerteste in dieser an sich schon gesegneten Gegend, ein Schloss direkt an der Elbe zu besitzen, aber dem ist nicht so. Mück weiß das, denn er hat mal mit einem leibhaftigen Nienstedtener gesprochen. Sie kamen ins Gespräch, als der Nienstedtener bei dem Versuch, das Cabriodach eines cremefarbenen Bentleys zu schließen, seinen Chapeau Claque fallen ließ, Mück diesen aufhob und anschließend fragte, ob er helfen könne.

"Jaja", sagte der Nienstedtener. Es dauerte ein bisschen. Der Nienstedtener fluchte die ganze Zeit über Cabriodächer, englische Autos, den Regen, England, seine Frau, englisches Wetter und Koi-Karpfen.

"Koi-Karpfen?", fragte Mück. Inzwischen war das Dach errichtet.

"Koi-Karpfen", sagte der Nienstedtener. "Wissen Sie, was so ein Fisch kostet? Ich sag's Ihnen. Fünf Kois, ein Bentley. Okay, da ist der Japaner dabei, den kauft man mit. Aber was soll ich mit dem? Spricht kein Deutsch, spricht kein Englisch. Steht den ganzen Tag am Teich und harkt, während die Kois im Teich schwimmen und rausglotzen. Angeblich kann er kantonesisch. Ob ihm das bei Fressnapf hilft, wenn er Karpfenfutter kauft, weiß ich nicht. Meine Frau mag ihn, sonst hätte ich ihn schon längst an die Kois verfüttert."

"Es ist sehr schön hier", sagte Mück.

"Ich weiß", sagte der Nienstedtener.

"Nur schade, dass man die Elbe nicht sehen kann. Sie ist ja ganz nahe", sagte Mück.

"Schade?", sagte der Nienstedtener. "Nein, das ist gut. Ich meine, wofür habe ich denn so lange und mühsam geerbt? Für den Elbblick? Ich sag Ihnen mal was: Die Elbe ist bloß ein Fluss. Das ist okay. Aber jeder Fluss hat ein Ufer. Nein, zwei sogar! Das ist schlecht, denn Flussufer sind öffentlicher Raum. Jeder geht hin. Jeder darf das. Ich meine, wirklich jeder! Denken Sie mal kurz darüber nach, was das bedeutet. Wie es wäre, ein Grundstück direkt am Elbufer zu bewohnen. Da sind dann all diese ... So, jetzt können Sie aufhören, darüber nachzudenken. Sie müssen sich ja nicht meinen Kopf zerbrechen. Das tun andere für mich, die ich sehr gut bezahle. Danke fürs Helfen, übrigens. Ich muss mal los."

Mück flaniert eine schmale Straße oberhalb der Hanglagen riesiger Elbgrundstücke entlang und bemüht sich, deren Besitzer zu bedauern. Er muss vorsichtig flanieren, denn überall liegen Pferdeäpfel herum, wahrscheinlich Hinterlassenschaften von Araberstuten, auf denen höhere Töchter zu ihrem Flötenunterricht bei polnischen Privatlehrern reiten.

Mück will heim. Der Reichtum anderer Leute bedrückt ihn allmählich. Genau deshalb geht er ja hier spazieren. Für ein paar Tage wird er sich in Billbrook wieder wohl fühlen.

Er biegt links ab und geht hinunter zur Elbe, direkt ans Ufer. Das Wetter ist sonnig und mild, der Fluss ziemlich benutzt. Nicht weit draußen fahren wunderbar klobige Autotransporter sowie bunt bepackte Containerschiffe vorbei; Lotsenboote, Hafenschlepper und holländische Hafenschlepper trudeln herbei oder fort. In den Lücken, über die glitzernden Fluten, gleiten teakholzbestückte Segelyachten dahin, wahrscheinlich mit eingebauter Vorfahrt. Laute, schnelle Sportmotorboote queren die Fahrrinne oder möttern wichtig ganz nahe am Ufer entlang. Dort umtänzeln attraktive Müßiggänger brüchige Trauerweiden, flüstern sich Börsendaten zu. Im Sand am Strand spielen gut gekleidete Kinder mit winzigen Papierbooten, gebastelt aus 500-Euro-Scheinen.

Mück schaut in seinen Tidekalender. Auflaufendes Wasser, sehr gut. Er steigt in die Elbe und lässt sich nach Hause treiben.

In unregelmäßigen Abständen wurde hier neue Literatur präsentiert. Aber jetzt ist Schluss