Dierk Strothmann über Kultpappen, Visum nach Österreich und drei Jahre Grizabella.

Jene Wochen im Herbst vor 20 Jahren hatten etwas Unwirkliches, sodass man sich immer wieder die Augen reiben und sich kneifen musste, um festzustellen, ob nicht alles nur ein Traum war. Auch und gerade in Hamburg. Es ist ja nicht weit nach Schwerin und Ludwigslust, nach Gadebusch oder Wismar. Und so überrollten sie uns vor allem am Wochenende mit ihren Wartburgs und Trabis. Sie wurden herzlich empfangen, obwohl aus den Auspuffen ihrer Kultpappen ungesund blauer Qualm quoll, der sich hartnäckig in der Luft hielt. Wir boten Unterkunft, wir luden sie zum Essen ein und gewannen viele neue Freunde.

In dieser fröhlichen Zeit, gespickt mit Träumen, wurden sogar Wunder wahr: Aus Dresden reiste eine junge Frau mit Namen Cornelia Drese an, Sängerin an der Staatsoperette, die sich eine Aufführung von "Cats" im Operetten-haus nicht entgehen lassen wollte. Und als ihr Freund ihr während der "Memories"-Arie der Grizabella zuraunte "das kannst du besser", da lachten sie beide noch.

Ein paar Wochen später erfuhr Conny, dass in Wien eine neue Besetzung für Hamburg gesucht wurde. Sollte sie sich bewerben? Wenige Monate zuvor war das undenkbar gewesen, aber jetzt? Man brauchte allerdings noch ein Visum aus der DDR nach Österreich, und das konnte dauern. Wunder Nummer eins: Ein freundlicher Volkspolizist verschaffte ihr im Handumdrehen die erforderlichen Papiere. Ihre 300 Mark Devisen, die aus dem Begrüßungsgeld für Conny, ihren Sohn und ihren Freund bestanden, reichten gerade für die Reise. Aber nicht auch noch, um sich abends "Les Miserables" anzusehen. Doch als sie sagten: "Wir sind Kollegen aus Dresden", bekamen sie den Eintritt gratis. "Nach der Aufführung standen wir im Regen wie Hänsel und Gretel und weinten vor Glück", erzählte Conny später. Am nächsten Tag, beim Vorsingen, kam sie sich aber vor wie Aschenputtel. "All die jungen, hübschen Mädchen, alle so schick gekleidet und so sorgfältig geschminkt."

Am liebsten wäre sie geflohen, aber sie war ja angemeldet. Da blieb ihr nichts anderes übrig als durchzuhalten. "Da waren wir durch und durch Kinder unseres Landes", erzählte die gebürtige Hallenserin. "In der DDR war es undenkbar, dass man sich anmeldet und dann nicht hingeht. Dann fiel man auf, und das wollte niemand." Doch nun ging es genau darum: Jetzt musste sie auffallen, um Erfolg zu haben. Da soll sich einer auskennen.

Ein bisschen ängstlich stand sie auf der Bühne und war froh, dass man sie nicht wegjagte und dass niemand lachte. Und dann hieß es "Kommen Sie morgen wieder." Sie hatte zwar absolut kein Geld mehr, aber "Sie wollen Sie morgen noch einmal sehen", so hieß es. Ein Kollege nahm sie auf, am nächsten Tag sang Conny um ihr Leben. Und sie gewann. Drei Jahre lang, bis 1993, war sie die Grizabella in "Cats" in Hamburg.

Inzwischen ist Cornelia Drese ein international gefragter Musical-Star, war künstlerische Leiterin im Colosseum in Essen, eröffnete in Dresden ein eigenes Ausbildungszentrum und führte sogar Regie - zuletzt in den USA.

Nun gut, nicht alle Geschichten, die damals begannen, hatten ein solches Happy End. Aber Wunder gibt es immer wieder.