Das Zentrum für Verwaiste Eltern in Hamburg-Eimsbüttel hat ein Projekt für trauernde Kinder und Jugendliche gegründet. Hier wird den jungen Menschen geholfen, den Tod eines Angehörigen zu verarbeiten - ohne zu vergessen.

Wenn Jacqueline (14) einen Schmetterling sieht, muss sie an Vanessa denken. Ihre Schwester, die genauso hieß wie eine Schmetterlingsgattung. Die mit ihren zehn Jahren genauso leicht und sorglos durchs Leben geflattert ist wie ein Schmetterling.

Manchmal, wenn Jacqueline daran denkt, ist sie glücklich. Weil es sie daran erinnert, wie viel Spaß sie zusammen hatten. Wie sie zusammen gesungen und getanzt haben. Gelacht.

Meistens, wenn Jacqueline daran denkt, ist sie aber traurig. Weil sie weiß, dass es nie mehr so sein wird. Weil Vanessa tot ist.

Und trotzdem freut sie sich, wenn sie einen Schmetterling sieht. Denn er bringt die Erinnerung. Die Erinnerung an ihre kleine Schwester, mit der sie zwar keine Zukunft mehr hat. Aber eine Vergangenheit. Und daran will sich Jacqueline erinnern.

Den Raum dafür bekommt sie in der Bogenstraße 26. Bei dem Verein Verwaiste Eltern und Geschwister. Alle 14 Tage treffen sich hier Kinder und Jugendliche, die einen geliebten Menschen verloren haben. Mutter, Vater, Bruder oder Schwester. Es sind Kinder, die trauern. Und die sich erinnern wollen.

In einem Erinnerungsbuch schreiben die Kinder und Jugendlichen alles auf, was ihnen wichtig ist. Was hat der Verstorben gemocht, was nicht? Welche guten Eigenschaften hatte er? Welche schlechten? Es geht nicht darum, jemanden zu verherrlichen. Sondern so darzustellen, wie er war. Damit man ihn nicht vergisst.

Tot ist, wer vergessen ist. Sagt man. Doch Jacqueline will Vanessa nicht vergessen. Deswegen guckt sie sich regelmäßig die alten Fotos an, die sie von ihrer Schwester gemacht hat. Kurz vor deren Tod. Deswegen hält sie ihre Erinnerungen schriftlich fest. Es sind Fragmente der Vergangenheit. Manche so schwer einzufangen wie ein Schmetterling.

Andrea Riek weiß, wie wichtig es ist, den Schatz der Vergangenheit zu bewahren. Ihre Tochter Saskia-Helena ist vor zwölf Jahren gestorben. Vier Tage vor ihrem 6. Geburtstag. Inzwischen ist Andrea Riek (45) Trauerbegleiterin und erste Vorsitzende bei den Verwaisten Eltern und Geschwistern. Heute beim Treffen nimmt sie die Kinder bewusst mit auf eine Erinnerungsreise. Weil viele Kinder sonst das Gefühl haben, dass die Verstorbenen ein zweites Mal sterben, wenn man nicht über sie spricht. Manchmal, weil die Worte fehlen. Meistens, weil es die anderen nicht hören wollen. Weil sie nicht wissen, wie man mit dem Tod umgeht. Und den Hinterbliebenen. Statt zu reden, schreiben sie Trauerkarten. Statt das Thema anzusprechen, vermeiden sie es. "Dabei möchte ich so gerne über Vanessa reden", sagt Jacqueline. Doch sie weiß, dass die anderen das meistens nicht hören wollen. Draußen, in der Welt außerhalb der Bogenstraße. Es ist eine Welt, in der man nicht weiß, wie man mit Kindern über den Tod sprechen soll. Wie man das Unerklärliche erklären soll. Es ist eine Welt, in der man trauernden Kindern hilflos gegenübersteht - und das Thema deswegen lieber verschweigt. Totschweigt.

Aus diesem Grund haben die Verwaisten Eltern Hamburg und das Institut für Trauerarbeit vor drei Jahren erstmals auch Gruppen für Trauernde Kinder ins Leben gerufen. Inzwischen ist die Modellphase vorbei, doch das Projekt geht weiter. Damit Kinder einen Platz zum Trauern haben. Und zum Erinnern.

Auf einem Tapeziertisch hat Andrea Riek Dutzende von kleinen Gegenständen arrangiert. Ein Feuerzeug, eine Muschel, einen Schraubenschlüssel. Die Kinder sollen sich zwei Symbole aussuchen, die sie an den Verstorbenen erinnern. Einen kurzen Moment lang ist Jacqueline unsicher, dann greift sie zu einer Batterie. Weil Vanessa wie eine Batterie war. Voller Energie. "Sie war immer in Aktion. Ruhig sitzen konnte sie nicht. Deswegen mochte sie meistens auch keine Bücher lesen", sagt Jacqueline und zeigt auf den zweiten Gegenstand, den sie sich ausgesucht hat: ein Buch. Es ist mehr als ein Symbol. Mehr als eine Erinnerung an Vanessa. Es ist eine Erinnerung an den Tag, als Vanessa starb. Als sie im Bus ein Buch gelesen hat und dadurch ihre Haltestelle verpasst hat. Als sie bei der nächsten Station ausgestiegen und über die Straße gerannt ist, um den nächsten Bus zurück zu bekommen - und von einem Auto überfahren wurde.

Laura (13) kennt die Geschichte wie ihre eigene. Sie weiß, wie Jacqueline mit ihren Eltern aufs Polizeirevier gefahren ist und erfahren hat, dass ihre Schwester tot ist. Auch wenn sie es damals nicht begreifen konnte. Weil sie selbst erst zwölf Jahre war.

Laura weiß, wie das ist, weil sie das gleiche erlebt hat. Die gleichen Gefühle. Die eigene Angst und Verzweiflung. Und die Hilflosigkeit gegenüber den Müttern und Vätern. Die selbst trauern und die man mit der eigenen Verzweiflung nicht noch mehr belasten will. Deswegen ist Laura heute hier, bei Jacqueline und den anderen Kindern, die einen geliebten Menschen verloren haben. Weil sie hier keine Angst haben muss, dass sie jemanden mit ihrer Trauer herunterreißt. Weil es hier nur um sie geht. Um ihre Trauer. Ihre Erinnerung.

Laura hat sich einen Liegestuhl als Symbol für ihre Erinnerung ausgesucht. "Weil es mich an die Urlaube mit meinem Vater erinnert", sagt sie und erzählt, wie die Familie zusammen an die Ostsee gefahren ist oder in die Türkei, Hauptsache irgendwo ans Meer. Wie sie zusammen im Strand gelegen haben. Gelebt haben. Bis zu diesem Tag, als Thomas gestorben ist. Einfach so. An einem Herzinfarkt. Mit 44 Jahren. Wenn Laura von Thomas spricht, nennt sie ihn meistens beim Vornamen. Weil er nicht ihr leiblicher Vater war, sondern ihr Stiefvater. Doch weil er der einzige Vater war, den sie je hatte, nennt sie ihn manchmal auch Papa.

An der Wand in der Bogenstraße 26 hängt ein selbst gemaltes Bild, das den Trauerweg zeigt. Ein Weg, der vorbei führt an einem Steinhaufen, einem See mit Fischen und einer Höhle, bis er irgendwo auf einem Berg endet. Unter einem Regenbogen. Der Regenbogen ist das Symbol der Verwaisten Eltern und Geschwister. Ein Regenbogen mit einer Bruchstelle. Er symbolisiert die Farben des Lebens, die Verbindung zwischen Himmel und Erde. Und er symbolisiert, wie das Leben durch den Tod eines Angehörigen einen Bruch bekommt, aber danach - irgendwann - wieder farbenfroh wird. "Die Hoffnung ist der Regenbogen über den herabstürzenden Bach des Lebens", heißt es.

Laura und Jacqueline befinden sich irgendwo in der Mitte des Trauerweges. Nicht ganz am Anfang, aber auch noch nicht am Ende. "Ich bin gerade hier, in der Höhle", sagt Laura und zeichnet ein Strichmännchen in das Bild. Es soll sie darstellen. Sie, wie sie in der Höhle sitzt. Allein. Weil sie sich oft alleine fühlt. Ohne Thomas.

Jacqueline hat ein Bild von sich selbst neben den Steinhaufen gemalt. Gestern ist sie von einer Jugendfreizeit wiedergekommen. Dort hat sie neue Freunde gefunden und viel über Gott gesprochen. Über den Glauben. Auferstehung "Das alles gibt mir Hoffnung, dass ich Vanessa im Himmel einmal wiedersehen werde", sagt Jacqueline. Sie ist traurig, dass die Freizeit vorbei ist. Dass sie Abschied nehmen musste. Wieder einmal. Jetzt, in den Ferien fährt sie mit ihren Eltern in den Urlaub. Doch danach wird sie wiederkommen. Zu den Verwaisten Eltern und Geschwistern. Um sich zu erinnern.

Draußen hat es angefangen zu regnen. Heute wird Jacqueline keinen Schmetterling mehr sehen.