Dierk Strothmann über Behörden, die nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.

Das muss schon ein seltsamer Kauz sein, dem es ein Leben lang Spaß macht, tödliche Gifte zusammenzumixen: Lungengifte, Biowaffen, Blut-, Haut und Nervengifte, Phosgen, Gelbkreuz und andere furchtbare Waffen. Wenn man nicht nur Chemiker ist, sondern auch darüber nachdenkt, wie man die tödlichen Gifte einsetzt oder wie sie ins öffentliche Wassernetz eingeleitet werden können. Dr. Hugo Stoltzenberg war so einer.

Warum sich der 1883 in Tirol geborene Giftkoch ausgerechnet Hamburg aussuchte, um 1923 an der Müggenburger Schleuse seine erste Firma zu gründen, ist nicht belegt. Für ihn war es jedenfalls ein Glücksgriff, denn die Hamburger Behörden machten ihm das Leben leicht. Oft erhielt er ohne große Prüfung Genehmigungen. Beispielsweise 1929, als sich Stoltzenberg in der Schnackenburger Allee in Eidelstedt ansiedeln wollte und am 1. Februar eine Genehmigung für ein chemisches Laboratorium beantragte. Er erhielt sie acht Tage später. Acht Tage für ein behördliches Genehmigungsverfahren! Unglaublich, weil es damals noch nicht einmal ein Jahr her war, dass aus einem Stoltzenberg-Kesselwagen Phosgen ausgetreten und eine Giftgaswolke Richtung Wilhelmsburg gezogen war. Mindestens zehn Menschen starben. Niemand wurde zur Rechenschaft gezogen.

Das war im Prinzip auch am 6. September 1979 so, als ein kleiner Junge sterben musste und zwei seiner Freunde verletzt wurden, weil sie im Keller der elterlichen Wohnung mit Materialien herumexperimentierten, die explodierten. Sie hatten das Zeug auf dem völlig verwahrlosten Gelände von Stoltzenberg gefunden. Das kam alles andere als aus heiterem Himmel. Immer wieder hatten sich Anwohner beschwert, es gab sogar kleine Anfragen an den Senat, auf dem Gelände brannten Nebeltöpfe und die Nachbarn litten immer öfter unter Atemnot wegen der Stoltzenberg-Dämpfe.

Stoltzenberg selbst war damals schon mehr als fünf Jahre tot, der Verfall seiner Firma hatte aber schon viel früher begonnen. Nun war es nur noch eine Schrotthalde. Eine lebensgefährliche. Nach dem Unglück fand man unter anderem mehr als 75 Tonnen Giftgas, darunter 35 Liter hochgefährliches Tabun, ein Nervenkampfstoff, der selbst in kleinsten Mengen tödlich wirkt. Wieder hatten die Behörden nichts gehört, nichts gesagt und nichts gesehen. Und wieder kamen alle ungeschoren davon - bis auf Justizsenator Frank Dahrendorf, der zurücktreten musste und so seinem Bürgermeister Hans-Ulrich Klose das politische Überleben sicherte.

Stoltzenberg gibt es heute nicht mehr. Sonst wäre vielleicht alles so weitergegangen, wie es ein Artikel der Zeitschrift "Weltbühne" schilderte. "Man vergisst, dass das in der Nachbarschaft menschlicher Wohnungen lagernde Todesgift seit Jahr und Tag ständige Todesgefahr über die zweitgrößte deutsche Stadt brachte", hieß es dort. "Die glücklichen Inhaber dieses Gestanks wussten wohl, warum sie sich nach Hamburg wandten." Dort hätte man ihnen einen Lagerplatz zur Verfügung gestellt und "weitherzige Aufsicht" zukommen lassen. Geschrieben wurde dieser Text 1928 von Carl von Ossietzky, Hamburgs einzigem Friedensnobelpreisträger, der bald darauf von den Nazis ermordet wurde.