Stößt man auch mit Bier an? Wünscht man heute noch “Gesundheit“ oder “Mahlzeit“? Trägt man abends Braun? Benimmfragen sind wichtig - aber auch eine Quelle von Irrtümern.

Laut einer Emnid-Umfrage halten rund 95 Prozent aller Deutschen gute Umgangsformen für wichtig beziehungsweise für sehr wichtig. Für 77,3 Prozent gelten gute Manieren sogar als karriereentscheidend.

Wen befragen die bloß? Gefühlte 75 Prozent der Bevölkerung verhalten sich eher so, als seien Benimmregeln eine persönliche, ganz fiese Zumutung.

Wenn eine Frau Nandine heißt, sollten wir daher aufpassen. Nandine Meyden nämlich kennt sich mit Umgangsformen aus. Ihre These lautet: Die Benimmwüste liegt nicht an bösem Willen, sondern an weitverbreiteten Irrtümern. Nandine Meyden klärt uns in ihrem neuen Buch auf.

Zum Beispiel ist es ein Irrtum, dass man heute beim Niesen nicht mehr "Gesundheit!" wünscht: Das galt noch nie als kultiviert. Es ist einfach albern, wenn die gesamte Bürobelegschaft "Gesundheit" ruft, sobald einer ins Taschentuch trompetet. Höflicher ist es, Niesanfälle zu "überhören" - sie kommen vor, sind aber kein Gesprächsthema.

Viele glauben: Wenn etwas erlaubt ist, muss ich es auch tun. Aber wenn bei Bekannten ein Aschenbecher auf dem Couchtisch steht, heißt das nicht, dass man dort jederzeit rauchen darf. Die Frage "Stört es, wenn ich rauche?" ist höflich und rücksichtsvoll. Nur weil irgendwo ein Hundeschild klebt, muss ich mir dort ja auch keinen Hund anschaffen.

Die größten Irrtümer gibt es heute in Fragen des Dresscode und der Geselligkeit. Manche Menschen halten Dresscodes auf einer Einladung für reine Empfehlungen. Irrtum: Hier sind sie verbindlich. Wenn da steht "Abendgarderobe", müssen Jeans, Bürokleidung und Button-down-Hemden zu Hause bleiben. Übrigens auch braune Anzüge. Wer trägt denn auch schon braune Anzüge? Höchstens Horst Schlämmer. Frauen hingegen können selbstverständlich im cognacbraunen Seidenkleid erscheinen.

Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass um schwarze Feinstrümpfe ein Glaubenskrieg tobt. Aber merke: Die korrekte Frau trägt schwarze Feinstrümpfe nur zu schwarzer Kleidung. Der Rest der Welt kombiniert sie trotzdem unbedarft mit Sommerröcken. Wer schöne Beine hat, darf sie im Hochsommer auch ohne Strümpfe zeigen - in einem alternativen Reisebüro. Aber nicht in einer Bank oder beim Vorstellungsgespräch.

Irrtümer gibt es sogar beim kleinen Getränke-Einmaleins. Man darf anderen nicht mit Wasser zuprosten? Falsch: Niemand wird ausgeschlossen, nur weil er keinen Alkohol trinkt. Wahrscheinlich kennt jeder diese Ich-bin-der-Sascha-Power-Unterhalter, die ihre Bierflasche gegen wildfremde Gläser knallen und dazu "Stößchen!" sagen. Beides sollte man bei formellen Anlässen tunlichst meiden: Da wird nur sanft mit Wein angestoßen, und es heißt "zum Wohl".

Nandine Meyden gibt viele solcher goldenen Tipps in ihrem "Lexikon der Benimm-Irrtümer". Ein Problem kann sie allerdings nicht aus der Welt schaffen: Wir leben in einer sozial ausdifferenzierten Gesellschaft. Überall gibt es Gemeinschaften, die mit Irrtümern glücklich und zufrieden leben. Wenn man dazugehören will, sollte man nicht belehren, sondern sich in heiterer Resignation anpassen - das nennt man "soziale Kompetenz".

Ein Beispiel: "Mahlzeit" als Mittagsgruß gilt inzwischen wirklich als verpönt, der kultivierte Mensch sagt "Guten Tag". Ich hab's im vollbesetzten Fahrstuhl getestet: Bei "Guten Tag" verzog sich keine Miene, die meisten brummten nicht mal. Auf mein fröhlich-gewerkschaftliches "Mahlzeit!" hingegen entspannten sich die Gesichter, und im Chor scholl "Mahlzeit" zurück.

War falsch. Aber viel geselliger.