Zugegeben, ich bin seriensüchtig. Aber: Arztserien? Arztserien sind doch nur lokal betäubende Abendunterhaltung, dachte ich früher.

Schlecht durchblutete Herzschmerz-Dramen. Sie können aber auch - wenn sie wirklich gut gemacht sind, böse und liebevoll und klug - den Finger in kleine und große Wunden des Lebens rammen. Das tut zuerst weh, und danach, wenn man kapiert hat, dass und was man daraus lernen kann, dann tut es gut.

Auf dem Beipackzettel von "Grey's Anatomy" steht Arztserie. Doch in Wirklichkeit bekommt man da beinharte Therapiesitzungen verpasst, für die man noch nicht mal Privatpatient sein muss. Die Chirurgen in dieser unglaublich anstrengenden US-Serie, die sind eindeutig nicht nett. Die sind zwar fix, aber auch fertig. "Nett" ist für die vielen hübschen, aber chronisch verkorksten Mediziner aus Seattle höchstens ein Trostpflaster-Wort, nur für Notfälle, nur für Patienten. Eine Kollegin, die aus Patientenschutzgründen ungenannt bleiben soll, schickt ihren verständnislos mosernden Gatten einfach aus dem Wohnzimmer, wenn "Grey's Anatomy" läuft. Früher hätte ich das nicht verstanden. Mittlerweile weiß ich, warum. Jede Folge ist eine OP am offen gelegten Herzen. Es geht immer gnadenlos zur Sache. "Wir sind Chirurgen und Männer. Wir verlieren Patienten." Manchmal möchte man auf der anderen Seite der Mattscheibe seinen Arm dafür geben, so etwas Elementares so klar aussprechen zu können. So sitzt man dann davor und sieht ängstliche, heldenhafte, verwirrte Menschen, leider oft cooler als du und ich. Die sich verletzende Wahrheiten an den Kopf werfen, weil für alles andere einfach keine Zeit ist. Unfassbar, wie viele Psycho-Macken in so einen Mediziner passen, bis er entweder eine Affäre mit der OP-Kollegin beginnt oder eine Patientin virtuos zusammenflickt, nur damit die dann doch unterm Skalpell wegstirbt und Hinterbliebene ihn, Rotz und Wasser heulend, als Mörder beschimpfen.

Und dann betrinkt sich dieser Chirurg tagelang, weil ihn die manchmal unheilbare Wirklichkeit vom Star-Neurologen-Sockel geholt hat, und pfeffert den Brillantring für die ebenso sonderbare Chirurgin, der er seit Wochen einen Heiratsantrag machen wollte, ins Dunkel der Nacht.

Wie viel Grausamkeit kann ein Mensch aushalten? Hier bekommt man Antworten verschrieben. Aber nur, wenn man sich traut, genau hinzusehen. Ernest Hemingway, bekanntlich auch kein Freund von Weicheiern, definierte 1929 die Kunst, das Leben zu überleben, als "Würde unter Druck", als "grace under pressure". Ein Tippfehler. Der Mann muss "Grey's" gemeint haben. Je größer der Druck, den viele von uns manchmal erleben und aushalten müssen, desto größer die Erleichterung, wenn es beim Anblick dieser "Hot Docs" auch mal um nichts Schlimmeres geht als ein angeknackstes Herz oder um ein lädiertes Ego. So etwas heilt schließlich wieder. Meistens jedenfalls.

Schwester, Tupfer!