Sie hat Angela Merkel jung und älter getroffen, Joschka Fischer durch dick und dünn begleitet. Herlinde Koelbl, eine der bekanntesten deutschen Fotografinnen, macht keine Schnappschüsse, ihre Themen sind Langzeitprojekte. Zu sehen jetzt in Berlin.

Horst Köhler? Man erkennt ihn auf dem Porträt fast nicht wieder. Das Gesicht ist so nah wie eine Landschaft aus Haut und Poren, die Augen unter der gerunzelten Stirn im Halbschatten. Er guckt streng und skeptisch. Herlinde Koelbl zeigt einen völlig anderen Köhler als den strahlenden, gut gelaunten auf Empfängen oder Staatsbesuchen. Koelbl ist eine Blicke-Sammlerin. Elfriede Jelinek guckt seelenvoll in ihre Kamera. Woody Allen todtraurig. Oskar Lafontaine träumerisch, aber auch abwartend. Jeder darf sich auf Koelbls Porträts selbst inszenieren, trotzdem werden sie zu Charakterstudien. Sie erfassen unerwartete Seiten einer Persönlichkeit, die man anders zu kennen glaubte.

Nähe und Distanz sind Schlüsselbegriffe in Herlinde Koelbls 30-jähriger Arbeit. Mehr als 450 Fotos, Film- und Videoinstallationen umfasst ihre erste große Werkschau im Berliner Martin-Gropius-Bau. Lauter Beweise, wie nah sie anderen immer wieder gekommen ist. Sie selbst wünscht solche Nähe nur, so lange es um ihr Oeuvre geht. Um ihr eigenes privates Leben möchte die zierliche 69-Jährige einen schützenden Kreis ziehen, das wird im Interview spürbar.

Aber welche Art von Beziehung muss zwischen ihr und den Menschen wachsen, die sie fotografiert - Kinder und Alte, Prominente und Unbekannte, Reiche und Obdachlose? Bleibt sie hinter der Kamera verborgen?

"Wenn ein gutes Foto entsteht, dann gibt es zwischen Fotograf und Modell immer einen Dialog, immer eine Nähe", sagt sie. "Einen nonverbalen Dialog, der da sein sollte. Die Kamera ist der Grund des Zusammenseins. Aber es sollte nicht bei diesem Grund allein bleiben. Es sollte zwischen beiden mehr entstehen - Vertrauen."

Beim Fototermin mit dem russischen Ultranationalisten Wladimir Schirinowski in Moskau eskortiert man sie auf Geheimwegen zu seinem Haus, in sein Schlafzimmer. Der Mann, der liebend gern Putin besiegen wollte und Gegner gerne mal handgreiflich angeht, posiert auf seinem Bett im gestreiften Bademantel. Dann möchte er der deutschen Fotografin seine Schlafhaltung zeigen. Sie fotografiert emsig. Es gibt nicht viele Worte (auf Englisch), aber der nonverbale Dialog muss funktioniert haben: Irgendwann merkt Koelbl, dass Schirinowski eingeschlafen ist, den Arm um das Kissen geschlungen.

Vertrauensbildung braucht Ausdauer. Für eines ihrer bekanntesten Projekte, "Spuren der Macht", hat sie über mehrere Jahre Männer und Frauen in Spitzenpositionen von Politik und Wirtschaft porträtiert, unter ihnen Angela Merkel, Gerhard Schröder, Joschka Fischer, Heinrich von Pierer. Vereinbart war: einmal pro Jahr ein Fototermin - Close-up, Sitzen, Ganzfigur - und dazu ein Interview über Selbsteinschätzung, Alltag, Zukunftserwartungen.

Angela Merkel fand diese jährliche Befragung am Anfang "unglaublich lästig", hat sie Koelbl später erzählt. "Ich dachte: Was soll der Quatsch? Das Buch erscheint ja erst in acht Jahren, man muss heute in der Presse auftauchen. Doch dann merkte ich, dass ich mich plötzlich gefragt habe: War Frau Koelbl in diesem Jahr eigentlich schon da?"

Die Langzeitstudie wird zur sehr individuellen Spuren-Sicherung. Merkel 1992: noch ganz "Kohls Mädchen" mit sanften runden Augen und der Selbsteinschätzung, sie gehöre "nicht zu den am härtesten gesottenen Politikern, aber ich weiß, dass ich durchkomme". 1996 wirkt ihre Mundpartie fester, ihr Blick ist direkter; sie hat gelernt, ihre Außenwirkung zu beeinflussen: "Natürlich macht man sich bestimmte Schablonen zu eigen, damit nicht jeder einem alle Gefühle an der Nasenspitze ansieht."

"Die Politiker haben sich stärker verändert als die Vorstandsvorsitzenden", sagt Herlinde Koelbl. "Weil sie einer größeren Öffentlichkeit ausgesetzt sind, sie leben mehr oder weniger unter den Augen der Öffentlichkeit. Das politische Amt ist auch eine physische Belastung. Zwölfstundentage sind normal. Ein US-Präsident sagte einmal: 'Diese Jahre zählen doppelt.'"

Langzeitprojekte sind Koelbls Markenzeichen. Für ihr erstes Buch "Das deutsche Wohnzimmer" (1980) hat sie über Jahre Bäuerinnen, Fabrikanten, Kunsthändlerinnen und Kranführer in ihrem ureigenen Ambiente besucht, hier stilvolles Design, da wuselige Wohnküche. 22 Jahre später setzte sie nach mit "Schlafzimmer": Ein ehemaliger Legionär schläft auf einer Matratze in einem Karton-Verschlag; zwei nackte Yogalehrer posieren auf ihrem Futon, in Yogaposition; ein Rentnerpaar sitzt todernst auf dem ordentlich bezogenen Doppelbett, zwischen sich die Ritze und viel Leere.

Koelbl ist keine Ideologin. Sie fotografiert nicht, um Gesellschaftskritik zu üben oder Verhältnisse anzuprangern. Aber sie hat einen sehr genauen Begriff von Alltags- und Kulturgeschichte; von Oben und Unten, von kleinen Fluchten und großen Sehnsüchten. Die Tochter eines Landwirts, 1939 in Lindau geboren, wollte ursprünglich Modedesignerin werden. Aber mit Anfang 20 heiratete sie und wurde Mutter von vier Kindern.

Erst Anfang der 70er-Jahre begann Herlinde Koelbl mit einer alten Agfa Silette zunächst ihre Kinder zu fotografieren. Keine üblichen Familienschnappschüsse, sie suchte nach Themen, einer eigenen Handschrift. Ab Mitte der 70er bot die Autodidaktin ihre Arbeiten großen Magazinen an, bekam die ersten Aufträge.

Koelbl steht nicht für die provokative Subkultur-Fotografie wie Jürgen Teller oder für Helmut Newtons distanzierten Glamour. Eine Verwandtschaft hat sie sicher zu Robert Lebeck, mit dem sie eine Vorliebe für Schwarz-Weiß teilt, oder zu Gabriele und Helmut Nothhelfer, den Dokumentaristen des deutschen Alltags.

Aber einer fotografischen "Schule" oder Richtung lässt sie sich nicht zuordnen. Natürlich orientiert sie sich. Sie kannte zum Beispiel Robert Mapplethorpes Männer-Akte. Aber als sie ihren eigenen Zyklus "Männer" plante, wollte sie kein vorgeprägtes ästhetisches Ideal wiedergeben, sondern wissen: Welches Verhältnis haben Männer überhaupt zu ihrem Körper - in verschiedenen Lebensaltern? Ähnlich bei ihrem Bildband "Starke Frauen": Da präsentieren selbstbewusste Rubens-Frauen ihre Rundungen in ihrer ganzen Lebenslust.

Koelbl sucht Menschen in allen Bereichen, sie erkundet systematisch ihre Hoffnungen, Freuden, ihre Laster, ihre Trauer, ihre Täuschungsmanöver. Sogar ihren Tod. "Sie ist die Feldforscherin unter den zeitgenössischen deutschen Fotografen", schreibt der Fotografie-Experte und Autor Hans-Michael Koetzle.

Mitte der 80er-Jahre erscheint im "Stern" ihre Bildstrecke "Feine Leute" - und Deutschlands Hummer-und-Häppchen-Schickeria sieht sich entsetzt selbst: Dekolletés, die aus zu engen Designerkleidern quellen; grabschende, brillantgezierte Greisenhände an Pobacken und am Bufett; gierig abschätzende Blicke auf die Konkurrenz.

Rechtliche Schritte waren zwecklos. "Das waren öffentliche Anlässe - Filmbälle, Chrysanthemenbälle, Festspieleröffnungen, Bayreuth-Eröffnungen und viele mehr, wo immer sehr viele Pressefotografen dabei sind", sagt Koelbl. "Da habe ich eben auch fotografiert." Nur war ihr Blick ein anderer: "Mir ging es nie darum, irgendjemanden bloßzustellen. Ich wollte ein Porträt über eine bestimmte Gesellschaftsschicht machen. Das heißt, die Körpersprache, die Rituale, Begrüßungen und Verabschiedungen festzuhalten wie in einem Spiegel." Heute gilt "Feine Leute" als Klassiker der Society-Fotografie.

Wie intensiv und emphatisch sich Koelbl auf ihre Bild-Partner einlassen kann, wird in keinem anderen Projekt so deutlich wie in "Jüdische Porträts" (1989). Über fünf Jahre lang reiste sie zu Holocaust-Überlebenden nach Wien, Paris, Tel Aviv, New York, führte lange Gespräche mit ihnen. Ohne einen Auftrag, ohne finanzielle Absicherung, aber in der Überzeugung: Es bleibt nicht mehr viel Zeit, um die Geschichte dieser Menschen zu erfahren. Die Schriftstellerin Grete Weil etwa, der Futurologe Robert Jungk, der Regisseur George Tabori: In ihren Zügen, sagt Koelbl, "haben sich Lebensschicksale eingeprägt". Man sieht es den Gesichtern an, vor allem den Augen: Sie erzählen von einer tiefen, untröstlichen Traurigkeit.

In einer Zeit ausufernder, austauschbarer Handy-, Party- und Celebrity-Ablichtungen steht Herlinde Koelbl für das Prinzip der fotografischen Aufklärung. Längst ist ihr Name international bekannt, sie hatte Ausstellungen in großen Häusern überall auf der Welt. In ihren eigenen Augen war entscheidend für ihre Entwicklung, dass sie sich ihre Themen selbst suchen, ihrer Neugier folgen konnte. "Als die Fotografie mich gefunden hatte, habe ich ganz schnell gemerkt: Das ist genau das Richtige. Es war ein Angekommensein, eine Erfüllung", sagt sie. "Und ich empfinde es bis heute als Glück, dass ich die Fotografie mit ihrer ganzen Bandbreite habe und damit spielen kann.