Ihre Mission lautet: Hauptsache prominent werden. Ob als Friseur, Sänger, oder Model. Dafür leiden die Jünger von Dieter Bohlen und Heidi Klum über Wochen und mit ihnen die Fernsehgemeinde. Castingshows sind Quotenrenner. Das hat nun auch das ZDF erkannt und castet jetzt sogar Nachwuchspolitiker. “Ich kann Kanzler“ heißt die Sendung. Also, Deutschland einig Castingland?

Superstar kann jeder: die Castinginflation

Ein neues Topmodel ist gekrönt, ein neuer Superstar gefunden. Mit Musicalsängern, Restaurantchefs, Mundharmonikatalenten und Tarzan-Darstellern sind wir versorgt, dem Privatsender Vox war selbst die Suche nach dem Top Dog, dem pfiffigsten Haustier, und dem besten Hair-Stylisten nicht zu dumm. Stillstand also in Deutschland, einig Castingland? Im Gegenteil: Til Schweiger ist seit Anfang der Woche in "Mission Hollywood" unterwegs und kümmert sich für RTL höchstpersönlich um den weiblichen Schauspielnachwuchs. Das ZDF, abgesehen von der Wahl zum allerwichtigsten Deutschen bislang zurückhaltend im grassierenden Rankingfieber, will kein Zugverpasser sein und textet nach altem Münte-Sprech "Ich kann Kanzler!" Gesucht wird niemand Geringeres als der deutsche Obama. Der Superpolitiker im sogenannten Superwahljahr - oder einfach gesagt: Menschen, die Politik besser können, als die beiden, die offiziell zur Wahl stehen. Anstelle gefühlter Superstars setzt man öffentlich-rechtlich auf echte Weltverbesserer. Ins Kanzleramt einziehen (als Praktikant) darf am Ende nur, wer von den Jurymitgliedern Günther Jauch, Anke Engelke und Henning Scherf für amtstauglich erklärt wird. Für alle anderen gibt es leider kein Wahlplakat. 5,46 Millionen Zuschauer hatte die sechste "Deutschland sucht den Superstar"-Staffel im Durchschnitt, über viereinhalb Millionen Menschen sahen das Finale von "Germany's Next Topmodel" - aber geht da nicht noch was? "Ich kann Papst!" zum Beispiel? Die Wahl zum Super-Deutsche-Bank-Chef? Oder der nächste Nationaltorwart presented by Oliver Kahn?

Lost Generation Casting

Castingshows, so lautet ein beliebtes Vorurteil, ist "Unterschichten-Fernsehen", wie Harald Schmidt das populäre Privatfernsehen einst nannte. Stimmt nicht. Selbst ein so kluger Mann wie der Philosoph Peter Sloterdijk befand kürzlich: "Ein Leittypus der nuller Jahre ist sicherlich der Kandidat von Castingshows." Die Generation Casting also, deren Mitglieder vom leistungslosen Ruhm träumen: Wer bin ich, dass ich etwas können müsste, um ein Celebrity zu sein? Längst sind die warholschen 15 Minuten Berühmtheit Realität geworden, in Doku-Soaps, Talkshows und eben: in Casting-Sendungen. Irgendjemanden müssen sie ja zum Star machen, warum nicht mich? - dieser Gedanke trägt dazu bei, dass 20 000 junge Frauen bei Heidi Klum als Anwärterin für den Supermodel-Titel vorstellig werden. Kamerascheu sind in Zeiten von Facebook und Twitter nur mehr die wenigsten jungen Menschen. Viele wollen eben heutzutage nicht Tierärztin oder Pilot werden, sondern tatsächlich: Superstar. Prominenz als Berufsziel. Die Starsuch-, Starmach- und Starvergessmaschine katapultiert alles und jeden vom Nobody zur "Bild"-Schlagzeile, in wenigen Minuten. Und mindestens genauso schnell wieder zurück. Vielleicht sind Castingshow-Berühmtheiten mit der Halbwertzeit eines Glühwürmchens aber vor allem ein Produkt unserer Zeit. Einer Zeit, in der es sich für die darbende Musikindustrie immer weniger rentiert, Stars langfristig zu etablieren und man lieber schnell und heftig abkassiert. Einer Zeit, in der Medien immer neuen Nachschub für die klatschbunten Seiten brauchen, und in der das reale Polit-Casting der Parteien völlig versagt. Oder wo, bitteschön, ist unser Obama?

Wo bitte geht's nach Hollywood?

Niemand hat behauptet, Ziel einer Castingshow sei es, einen Superstar zu finden. Ziel einer Castingshow ist einzig, eine Castingshow zu machen. Eine Sendung, bei der das Publikum brav für seinen Lieblingskandidaten anruft und Werbemillionen, Telefon-Euros und Merchandisinggeld in die Senderkassen prasseln (mit den Worten von Dieter Bohlen: "Nur der gewinnt hier, wo die meisten Leute für anrufen."). Nach sechs Staffeln "Deutschland sucht den Superstar" und vier Staffeln "Germany's next Topmodel" weiß nun auch der Letzte, dass Heidi Klum keine Welt-Karrieren zündet und Dieter Bohlens Starimitate vergessen sind, bevor ihre Karrieren überhaupt losgehen - oder erinnert sich noch irgendjemand an Elli Ertl und, äh, Tobias Regner? Mode- und Musikbusiness suchen sich ihre eigenen Gesichter, das war schon immer so, und wird wohl auch immer so bleiben. Es geht einzig um das Drumherum und nicht darum, einen tollen, neuen Sänger zu finden. Deshalb stehen im Mittelpunkt Exoten und Tussis. Das bringt, geschickt inszeniert, Quote und macht die Castingshows zu dem, was sie letztlich sind (und sein wollen): eine große Sause. Nichts ist so unterhaltsam wie ein hoher Peinlichkeitsfaktor, nichts so medienwirksam wie ein Heulkrampf zur besten Sendezeit. Ein weiteres Missverständnis ist die Annahme, Sieger sei zwangsläufig der, der am besten gesungen/gemodelt/gekocht hat. Sieger ist der, der die meisten Stimmen bekommen hat. Oder der Jury am besten gefällt. Die Ironie besteht wiederum darin, dass in all den Sendungen wohl kein Begriff so häufig fällt wie dieser: Starpotenzial.

Kein Zuckerbrot ohne Peitsche

Castingshows und deren Inhalte sind Wasser auf die Mühlen von Kulturpessimisten, Jugendschützern und Leitartiklern. Selbst Intellektuelle wie Roger Willemsen ("Exzess der Nichtigkeit") oder Alice Schwarzer ("menschenverachtend") kommen (und wollen) daran nicht vorbei. Oft nehmen die Diskussionen ähnlich skurrile Züge an, wie die Sendungen selbst, aber das nur nebenbei. Fest steht: Castingshows haben die klassische Familienunterhaltung wie "Wetten, dass..?" als Fernsehgroßereignis abgelöst. Ihnen gelingt, wonach die gesamte Branche strebt: ein großes junges Publikum über mehrere Wochen zu erreichen und zu bannen. Auf bis zu 44 Prozent Marktanteil bei den 14- bis 29-Jährigen kam "Deutschland sucht den Superstar" zuletzt. Und wo auf dem Prominentensofa von Thomas Gottschalk größtenteils gepflegte Langeweile vorherrscht, schlagen zu Beginn jeder Bohlen-Staffel die Erregungswellen hoch. Angewidertes Naserümpfen paart sich mit Faszination - ungefähr so, wie man sich auf der Autobahn nach einem plattgefahrenen Tier umsieht. Doch wer Castingshows verdammt, unterschätzt ihre identitätsbildende Kraft. Ob abgöttisch geliebt oder leidenschaftlich gehasst - jeder hat eine Meinung zu ihnen. Oder worüber wurde in den letzten Wochen auf Bürofluren und Schulhöfen geredet? Eben: Daniel oder Sarah? Sarina! Heidi, die Supermodeldespotin. Wer empört ist - siehe Roger Willemsen, siehe Alice Schwarzer -, kommuniziert das möglichst breit, und wir lernen: Selbst in den Buhrufen steckt die Leidenschaft.

Wer ins Fernsehen geht, kommt darin um?

Geh' nicht zu dicht an den Fernseher, das ist ungesund, hieß es früher. Heute meinen wir, unsere Kinder davor bewahren zu müssen, ins Fernsehen zu gehen. Zu Domina Heidi und Proll Dieter, den modernen Rattenfängern von Hameln. Zurschaustellung und Erniedrigung sind Vokabeln, die in diesem Zusammenhang ständig fallen. Dabei wissen die meisten jungen Menschen sehr genau: Du hast keine Chance - also nutze sie. Und das geht am besten und effektivsten im Fernsehen. Castingshows verlangen von ihren Kandidaten Disziplin bis zur Selbstaufgabe, die exakte Erfüllung von Zielvorgaben. Wer nicht performt, fliegt raus - aber das ist heutzutage im Berufsleben auch nicht anders. Müssen wir wirklich Mitleid mit ihnen haben, diesen bedauernswerten Geschöpfen, die, triefend vor Selbstüberschätzung, vor die Jury treten? Anders gefragt: Ist Daniel Küblböck ein Opfer? Küblböck, dieses Paradebeispiel eines gescheiterten Castingproduktes, der nach seiner Kürzest-Karriere als Musiker beim Baden in Mehlwürmern gesichtet wurde ("Dschungelcamp") und schließlich die Wahl zum nervigsten Deutschen gewann. Gut, den wenigsten Kandidaten gelingt mehr als ein Top-10-Hit, geschweige denn eine wirkliche Karriere. Meist tingeln die früheren "Superstars" von der Baumarkt-Eröffnung zum Promi-Kochen. Das ist nicht schön, aber so geht's. Fernsehshows sind Aufmerksamkeitsfenster, die sich öffnen und wieder schließen. Und vielleicht durchschaut niemand diese "Spielregeln" und den inszenierten Charakter besser als diejenigen, die wir bedauern.

Vom Tellerwäscher zum Millionär (und wieder zurück?)

"Yes, she can" stand auf einem Transparent, das Zuschauer beim Finale von "Germany's Next Topmodel" für die Kandidatin (und spätere Gewinnerin) Sara in die Höhe hielten. Wir sind im Obama-Jahr. Selten war er hierzulande so lebendig, der Glaube, dass Leute, die Charisma haben, es ganz nach oben schaffen können. Vom Tellerwäscher zum Millionär. Trifft der uramerikanische Traum auf die Fernsehrealität, sind das Ergebnis im Idealfalle lupenreine Erfolgsgeschichten wie die von Jennifer Hudson, die es von der "American Idol"-Finalistin zu Oscar-Ehren für die beste Nebenrolle gebracht hat. Oder die von Paul Potts, dem kleinen, dicken, (nun nicht mehr) schiefzahnigen Handyverkäufer aus Bristol, der bei "Britain's Got Talent" mit seiner Puccini-Arie die Jury zu Freudentränen rührte und es geradewegs hineinschaffte in den Werbespot der Deutschen Telekom.

Moderne Adaptionen des Aschenputtel-Themas - und lebendiger Beweis für das große (und schale) Versprechen, von dem Castingshows gemeinhin leben: dass nämlich jeder seinen Traum verwirklichen und ein Star werden kann, allein durch Talent und schiere Willenskraft. Vielleicht war dieses Bedürfnis selten so groß wie in Zeiten der großen Krise: Je unsicherer die ökonomische Wirklichkeit, desto größer die Sehnsucht nach Geschichten, die schöner sind, als das Leben sie schreibt. So sitzen wir allabendlich vor den Bildschirmen und warten auf das echte Leben im falschen. Auf das plötzlich Interessante, auf einen Augenblick der wahren Empfindung. Werbepause um Werbepause warten wir darauf, dass das Fernsehen ihn endlich finden mag: den Superstar, der uns erlöst. Wenigstens für 15 Minuten.