In jener Nacht war es so weit. Vater hatte häufig davon geredet, dass es irgendwann einmal so weit sein würde. Er hat geheimnisvoll getan. So wie er oft geheimnisvoll tat.

Über allem breitete er schwarze Tücher aus, und manchmal, hatten wir Gäste, verbarg er auch seinen Kopf unter eben solch einem Tuch, und wir Kinder mussten raten, wer er war, und wenn wir Vater sagten, riss er sich beleidigt das Tuch vom Kopf, warf es aufgebracht zu Boden und stampfte anschließend die Treppen nach oben in einen Raum, den er Arbeitszimmer nannte, doch im Grunde stand dort nur ein Sessel, von dem aus man das Kernkraftwerk sehen konnte. Ebenso wie für Geheimnisse interessierte Vater sich für Strom. Durch das ganze Haus liefen Kabel. Rote, schwarze, blaue. Und brachten Lampen zum Leuchten, hielten Alarmvorrichtungen in Betrieb oder ließen winzige Motoren nur um ihrer selbst willen laufen. Den ganzen Tag über war das Haus mit Surren und Summen und Brummen erfüllt, und manchmal schoben wir Vaters Zustand auch darauf. Zumal das Geräusch von Strom ähnlich dem des Wahnsinns ist. Anfangs ließ Vater die Motoren ständig laufen und ließ sich erst davon abbringen, nachdem Mutter damit drohte, ihn zu verlassen. Seitdem war zumindest nachts Ruhe und nur manchmal konnte man Vater in seinem Arbeitszimmer hören, wie er vom Sessel aufstand und im Zimmer auf und ab ging, auf der Suche nach neuen Möglichkeiten, wo Strom zum Einsatz kommen könnte.

Auch in jener Nacht konnte ich ihn hören. Ich schlief schlecht. Den Strom zu hören, meinte man immer. Ständig entlud sich irgendwo in diesem Hause Ladung, und man spürte stets die bloße Anwesenheit von Strom. Eine Anspannung, die mich oft nicht in den Schlaf entließ, und wach lag ich dann da, als sei ich dies elektrische Ding, das am Laufen gehalten wurde. Schlief ich dann doch irgendwann ein, nach Stunden des unruhigen Hinundherwälzens, träumte ich von Maschinen, die surrten wie Schafe.

In jener Nacht kam Vater an mein Bett und sagte mir, ich solle ihm folgen. Er hatte Rollen mit Kabeln dabei, eine blaue, eine rote und drückte mir eine gestreifte in den Arm. Es ging in den Keller, in den wir Kinder sonst nicht durften. Auf eine der Türen dort hatte Vater Strom geschrieben, und diese schloss er nun auf, und befreite das laute Surren und Fauchen, das bis dahin darin eingesperrt gewesen war. Kopfschmerzen waren das erste, was ich spürte, noch vor der Angst. Vor Vater und dem Strom, die beide hier unten wesentlich mächtiger wirkten als oben im Haus, wo auch Mutter war. Mutter Erdung.

Ein riesiger Generator aus dunklem, fast schwarzem Metall befand sich darin, von dem allerlei Kabel abgingen und in einer großen, dunklen Öffnung in der Wand verschwanden. Hätte Vater etwas gesagt, es wäre nicht zu hören gewesen, und war Strom im Haus eine Empfindung, so wurde er hier unten fast zu einem Gegenstand, so präsent war er.

Schweigsam begann Vater, die Kabelenden der einzelnen Spulen an dem Generator zu befestigen. Er wirkte ernst dabei. Seine Zunge lugte zwischen seinen Lippen hervor, wie sie das immer tat, wenn Vater mit Strom hantierte. Würde die Zunge blau anlaufen, so sollten wir Hilfe holen, hatte er einmal gesagt, und manchmal wusste man nicht, ob man nicht auch einfach so mal Hilfe holen sollte, obwohl zumindest die Zunge war, wie sie sein sollte.

Die Rollen langsam abwickelnd bewegten wir uns anschließend die Kellertreppe nach oben, durch den Flur und schließlich raus aus dem Haus, die Straße hinunter in Richtung Wald. Vater war schweigsam währenddessen, und ich hatte das Gefühl, er hätte fast vergessen, dass ich neben ihm ging. Unsere Gummikleidung quietschte bei jedem Schritt.

Gummi wäre der natürliche Feind des Stroms, hatte Vater gesagt, und es wäre unabdingbar, dass wir uns schützten. Strom wäre nicht nur für gute Dinge verantwortlich, wie Licht oder Bewegung. Strom verbrenne Fleisch, und den Geruch vergesse man nie.

Ob er mir von seinem Vater erzählt hätte, fragte er nach einer Weile, in der wir wieder schweigend die Straße hinunter gegangen waren.

Die Häuser verschwanden, Stämme ersetzten sie. Blätter.

Obwohl ich bejahte, schien Vater mich nicht zu hören.

Sein Vater hätte über Strom immer gelacht. Man könne es sich nicht vorstellen, aber damals hätte es das ja nicht gegeben. Krieg brauchte keinen Strom. Der Krieg brauchte Feuer, und Feuer wäre im Grunde eine Vorstufe des Stroms gewesen. Erst nach dem Krieg hätte man den richtigen Strom entdeckt, und es hätte lange gebraucht, bevor die Menschen begriffen, dass Strom gar kein Gegenstand war, nicht zu sehen wie das Feuer. Am ehesten wäre Strom noch mit Liebe oder Hunger zu vergleichen, sagte Vater ernst, denn auch Strom wäre für Gutes und Schlechtes verantwortlich, und würde er unterschätzt, so verbrannte er einem erst das Fleisch, bevor er einen dann tötete.

Es war noch früh am Morgen, ich hoffte, zu jeder anderen Tageszeit hätte Vater nicht sein Hemd aufgeknöpft, um mir seine Brust zu zeigen, auf der der Strom deutliche Spuren hinterlassen hatte. Vater hatte nur noch eine Brustwarze. Die andere hätte der Strom bei einem Wasserexperiment gefressen. Ob ich sie mal berühren wolle, die Stelle, an der der Strom zugange gewesen sei. Ich schüttelte nur heftig den Kopf, hoffte, dass wir bald weitergehen würden.

In jedem Jungen steckt die Sehnsucht nach der ungeteilten Aufmerksamkeit seines Vaters. Väter sind zu beschäftigt. Mit Geld, Autos, Frauen, die sind wie Mütter früher, und jeder Moment mit ihnen gleicht einer winzigen Kostbarkeit. Doch an diesem Morgen mit Vater wusste ich nicht, ob die Sehnsucht nach etwas nicht manchmal viel besser war als die Erfüllung. Mein vom Strom schartiger Vater, der sich, auch als wir weitergingen, nicht das Hemd zuknöpfte.

Es ging tiefer in den Wald, und noch immer rollten wir die Kabel von den Rollen ab, wie Hänsel und Vater, und immer wieder blieb er stehen und legte sich den Zeigefinger über die Lippen. Um zu lauschen. Der Strom, wisperte er immer wieder. Er könne ihn hören.

Das Atomkraftwerk lag hinter dem Wald, damit die Menschen es nicht sehen konnten, nicht kamen und sich Strom stahlen. Ein weißer Bau, der mit hohen Elektrozäunen umgeben war, die so manches Tier erlegt zu haben schienen. Schwarze, verkohlte Früchte lagen an seinem Fuße, und ständig stoben Funken, etwas zischte, fiel anschließend verbrannt zu Boden.

Ich bräuchte keine Angst zu haben, sagte Vater, der Strom würde ihn kennen. Er wäre oft hier, um dem Strom zuzusehen. Manchmal würde er sogar mit ihm reden, so wie er es mit Mutter nicht mehr könne. Wenn aus Frauen Mütter würden, dann würden sie sich verändern, wohingegen Männer immer Männer blieben, ganz egal, was auch geschähe. Leidenschaft. Der Strom erinnere ihn manchmal an Leidenschaft. Mehr als das. Er wäre etwas, für das es sich zu leben lohnte. Etwas, was er lange Zeit verloren zu haben glaubte.

Während Vater mit mir redete, wickelte er mir seine Kabelenden um die Hände. Nahm dann meins und schob es mir behutsam in den Mund.

Er hätte mir doch von Abraham und Isaak erzählt. Nun, es täte ihm leid, aber so wäre es nun einmal auch mit dem Strom.

Jeden Samstag waren wir jetzt bei Vater und sahen Sport. Er wirkte verändert. Tatsächlich so, als wäre er wie ein elektrisches Gerät, das nicht mehr funktionierte. In dem der Strom nicht mehr richtig floss. Mechanisch legte er uns einem nach dem anderen die Hand auf den Kopf und zählte auf, was es gegeben hatte. Essen ersetzte Vater nun den Strom, doch seine Euphorie diesbezüglich hielt sich in Grenzen. Und auch was Überraschungen anbetraf. Nur noch manchmal versteckte er sich hinter den bodenlangen Vorhängen und rief, dass wir einmal raten sollten, wer er wäre, er wüsste es selbst nicht so genau, und wenn wir dann, wie früher, Vater sagten, wirkte er eher erstaunt als aufgebracht, und zog den Vorhang beiseite, um zum Spiegel über dem Waschbecken zu gehen und sich darin zu betrachten. Er hatte sich einen Schnurrbart stehen lassen, als brächte das etwas Normalität in unser Leben zurück.

Vater hatte damals versucht, mich gegen den Zaun zu pressen, und ich hatte geschrien. Uniformierte Männer waren gekommen. Hatten Vater mitgenommen, ihn anschließend nicht mehr hergeben.

Zwar wüsste er jetzt, dass das mit dem Strom nicht richtig gewesen wäre, aber er hätte sich wohler dabei gefühlt. Und manchmal wüsste er nicht, ob es nicht besser wäre, für etwas zu leben, was zwar an sich falsch war, als für gar nichts.

Wir wussten es auch nicht und fuhren weiter jedes Wochenende zu Vater. Auch noch lange, nachdem Mutter es nicht mehr tat. Und manchmal nahmen wir Batterien mit, an denen Vater leckte, und hin und wieder kehrte dann ein kleines Lächeln auf sein Gesicht zurück. Wie ein Zipfel der Euphorie, der aus seinem Mund lugte. Wenn er uns ansah und flüsterte, da wäre etwas. Er könne es fühlen.