Harald Rolf hat sein Leben lang Aale geräuchert. Heute ist der 73-Jährige einer der letzten seiner Zunft und veredelt dieFische nur noch für das Hamburger Fischereihafen-Restaurant und private Feinschmecker. Ein Besuch in Groß Borstel.

Mit einem lauten Knall schlägt die einst weiße Tür der Fabrikhalle zu. Jetzt gibt es kein Entkommen mehr. Stumm und wehrlos, gräulich schimmernd vom Neonlicht, hängen sie fein säuberlich in Reih und Glied an den ein Meter langen Stangen, bereit für den letzten Gang. Wassertropfen haben sich auf dem von Rissen durchfurchten, schmierigen Betonboden gesammelt. Kabel hängen schlaff und untätig aus einem museumsreifen Sicherungskasten. Der braune Polstersessel aus den 70ern scheint das jüngste Mitglied der kleinen Möbel-Familie neben einem Tisch und zwei Hockern zu sein. Die Zeiger der Wanduhr stehen bei kurz vor halb drei. Schon seit vielen Jahren.

Und dann dieser Duft. Schon beim Eintreten umfängt er den Besucher. Kalter, aber zugleich unaufdringlicher Rauch. An was erinnert das bloß?

Die Duftquelle wird dann auch gleich offenbar: Da steht es, dieses schwarze, mächtige, gemauerte Ungetüm, der Ofen. So groß wie ein Schiff, beansprucht er mehr als zwei Drittel des 150 Quadratmeter großen Raumes. Stolz und trotzig tragen die von dickem Rußglanz umhüllten Eisentore des einst berühmten Altonaer Räucherofens ihre 75 Lebensjahre zur Schau. Eigentlich ist seine aktive Zeit längst vorbei.

Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es in Altona etwa 60 Räuchereien mit 500 Öfen, die 18 Stunden pro Tag befeuert wurden, die ganze Nacht hindurch, damit der Fisch morgens handwarm ausgeliefert werden konnte. "Der ganze Stadtteil stand unter Qualm", sagt Harald Rolf und spricht dabei aus eigener Erinnerung. Es klingt fast wehmütig.

In Hamburg gibt es heute nur noch zwei dieser Öfen - der strengen Umweltschutzvorschriften wegen und weil die Menschen weniger Räucherfisch essen. Ein Exemplar der fast ausgestorbenen Gattung steht an der Großen Freiheit auf St. Pauli, der andere, der Harald Rolf gehört, in Groß Borstel. 1989 musste der heute 73-Jährige 700 000 Mark in die Modernisierung der Anlage stecken.

Schon 1953 hat Rolf hier geräuchert. Aal, Makrele, Bückling, Schillerlocken, Heilbutt, Rotbarsch, Sprotten. Tonnenweise. Der gebürtige Niendorfer war ein schlauer Bursche, wie er selbst sagt. Er hätte zum Studieren getaugt, aber nach der Handelsschule befahl ihm Vater Hinrich - ein Patriarch alter Schule - einen anderen Weg einzuschlagen. "Nichts da", sagte er "du kommst zu mir in die Räucherei." Damit war der Werdegang des Sprösslings entschieden.

1919 hatte der Großvater, ein Finkenwerder Seefischer, den Betrieb gegründet, 1933 wurde der Firmensitz der "Albert Rolf und Sohn" nach Groß Borstel verlegt. Bruder Helmut übernahm den Leiter- und Stahlrohrgerüstverleih, der auch dem Vater gehörte. In den 50er-Jahren half Harald Rolf nebenbei mit, die neuen Elbbrücken und den Hauptbahnhof einzurüsten.

Seine Räucherei lief blendend, er handelte geschickt und erfolgreich. In der letzten Blütezeit von 1979 bis 1989 hatte er 30 Angestellte, die die 15 Ofenschächte unter Feuer hielten. Seine Wohnung verlegte der Junggeselle in die Räume im ersten Stock, so war er immer verfügbar. Der Ofen war sein Leben.

Hamburg genügte ihm zwar eigentlich nie - den begeisterten und talentierten Sportler (Tennis, Fußball) trieb die Reiselust in die ganze Welt hinaus. Doch von den Aalen kam er nicht los.

Während er so erzählt, bückt sich Harald Rolf langsam, um ein paar Scheite Holz im Ofen zu schichten. Beide Knie laufen auf Felge, der Meniskus hat sich längst verabschiedet. Seit einem Motorradunfall 1954 ist das rechte Handgelenk steif. Es knistert, der Rauch von Erlen- und Buchenholz steigt auf. Erle für den Qualm, Buche für die Hitze. "Wie beim Scheiterhaufen einer Hexenverbrennung", sagt er und lächelt.

Einen Vormittag pro Woche haucht Rolf dem Ofen Leben ein. Bis zum Fall der Mauer hatte er ein Monopol in Hamburg, danach drückte die Konkurrenz aus Ostdeutschland die Preise so brachial, dass er vor eineinhalb Jahren für immer schließen wollte. Die Zeiten, in denen er an einem Wochenende zwei Tonnen Bückling räuchern musste, um den Bedarf zu stillen, waren sowieso längst vorbei. Doch dann kam Rüdiger Kowalke, der Betreiber des Fischereihafen-Restaurants im Hafen, auf ihn zu und drängte Rolf, weiterzumachen. Per Handschlag machten sie den Handel perfekt: "Ich kann ohne deine Fische nicht auskommen", sagte Kowalke zu Rolf. Und er hörte das gern.

Jetzt kommen die Wildaale wieder aus Skandinavien, und der frühere Bundespräsident Walter Scheel kann sich bei seinen Hamburg-Besuchen wieder eine Extra-Portion für zu Hause einpacken lassen. Eine Lohnabrechnung braucht Rolf für sein einträgliches Hobby allerdings nicht mehr - schließlich ist Schäferhündin Afra seine einzige Begleitung, und die ist mit ein paar Hundekuchen zufrieden.

Zum Ritual gehört, dass Rolf dienstags in der Küche von Kowalke wahlweise ein Hummersüppchen oder einen Matjes zum Verkosten angeboten bekommt.

Vor einem halben Jahrhundert ersteigerte er an gleicher Stelle noch von den Fischerdampfern die Ware zum Räuchern. Um acht Uhr morgens, wenn der letzte Hammer gefallen war, ging er rüber in die Kneipe "Eier-Corl" von Walli Niemann, um mit Fischhändlern Klabberjass zu spielen. Wer die falschen Karten hatte, musste nicht nur die nächste Runde Korn bezahlen, sondern auch ein paar Scheine auf den Tisch legen.

Plötzlich wird Harald Rolf unruhig, im Nu verändert sich sein Blick. Der Jutesack oberhalb des Ofenschachtes, eine Eigenanfertigung, um den Rauch um die Aale noch stärker zu verdichten, hat Feuer gefangen.

Zu viel geklönt. Rolf turnt plötzlich gelenkig und behende auf der Eingangsluke der Eisentür herum. Wie in alten Zeiten, als es im Bekstück 36 noch Erdbeerfelder und Obstbäume gab, bevor die Lkw in den 60er-Jahren anfingen, auf dem Nachbargrundstück Müll abzuladen und sich bestialischer Gestank breit machte. Rolf greift in die Glut, als könne ihm diese nichts anhaben.

Der kleine Brand ist schnell gelöscht. Die bis zu 1000 Gramm schweren Aale warten am Eingang des Ofens. Harald Rolf hat sie über Nacht in einer unter anderem mit Wacholder und Lorbeer garnierten Salzlake - "die genaue Rezeptur ist ein Geheimnis" - auf ihren Einsatz vorbereitet. Gute zwei Stunden und mehrere Ladungen Holz braucht es bei 60/70 Grad und geschlossener Klappe, bis ihre Haut die unverwechselbare goldbraune Farbe angenommen hat. Alle 20 Minuten meldet sich der Ofen, Rauchschwaden zwängen sich durch die Ritzen der Türen. Das Zeichen für Harald Rolf, zur Tat zu schreiten. Nur in den ersten fünf Minuten bekommen die Aale mit offener Flamme "was auf den Hintern, damit sich die Bauchhöhlen öffnen". Im Fachjargon nennt man das "Aufbrennen". Ansonsten verhindert das frisch nachgereichte, leicht angefeuchtete Holz, dass sich Flammen bilden und den Fisch trocken und hart machen.

Ein prähistorisch anmutender, 30 Jahre alter Standventilator lagert nur ein paar Meter vom Ofen entfernt. Er wird später die Aale lüften, bevor sie eine Dreiviertelstunde im Kühlraum verharren und dann verpackt werden.

Einige Schritte weiter endet die Halle mit einer Sechs-Quadratmeter-Zelle. Ein Luftschutzbunker mit meterdicken Mauern. Dort hat die Familie 1943 die Luftangriffe der Engländer nur knapp überlebt. Eine Zehn-Zentner-Bombe schlug nur 30 Meter von der Fabrik entfernt ein, zündete aber nicht, weil sie im weichen Lehmboden der angrenzenden Gärtnerei landete. Das Surren der Bombe hat Harald Rolf nie vergessen. Damals war er neun. War die Räucherei vor dem Ausbruch des Krieges noch eine der größten in Hamburg, fing die Familie 1945 mit zehn von den Engländern zugeteilten Kisten Hering wieder fast bei null an.

Harald Rolf holt ein Stück Aal aus dem Ofen, filettiert es mit schnellen, gekonnten Bewegungen. "Mein Sohn Kevin", sagt er nebenbei, "ist jetzt 22 Jahre jung und lernt Außenhandelskaufmann. Er lebt derzeit in Australien. Aber ich habe ihm schon klargemacht, dass ich ihm das Räuchern beibringen werde. Der braucht nicht am Sonnabend in die Disco zu gehen. Der soll das bald hier weitermachen und sich nebenbei was am Wochenende verdienen."

1986 hat sich der ewige Junggeselle doch verheiraten lassen und lebt nun mit seiner Frau Monika in der Nordheide. Sie hat den Abenteurer gebändigt. Aber still sitzen, das geht immer noch gar nicht. Golf ist neben den Aalen seine Passion. Weil die Beine nicht mehr mitmachen, kann er die Plätze nur mit einem Elektrowagen befahren. Sein erstaunliches Handicap von 14,2 beweist allerdings, dass er nicht nur den Umgang mit Fisch beherrscht.

Das lauwarme Aalstück in seinen Händen dampft noch etwas. Weich und zart zerfällt es anschließend auf der Zunge, überhaupt nicht fettig oder ölig. Ganz eindeutig: Es riecht nach wohligem, heimeligen Kaminfeuer - und schmeckt kräftig-anregend. Nach einem Hauch Salzwasser. Nach Meer.