Man stellt sich Ulrich Noethen immer als feinsinnigen Zweifler vor. Als verunsicherten Mann von heute, keinen “feurigen Zorro“. Oder? Heike Gätjen entdeckte hinter seiner Grübler-Miene aber doch ein leises Augenzwinkern.

Das Leben kann schon sperrig sein. Im Film und überhaupt. Und ein Happy End gibt es auch nicht. Oder, sagt er, glauben Sie etwa daran? Ulrich Noethen, einer der wandlungsfähigsten deutschen Charakterdarsteller, hat kein seelisches Tief. Er ist einfach so. Selbstzweiflerisch, hinterfragend, abwägend. Mit einem gut getarnten hintergründigen Humor.

In dieser Woche ist er als Roland Spatz in "Das wahre Leben" ins Kino gekommen. Dafür tourt er gerade durch die Republik. Wir treffen uns am Flughafen, kurz bevor es weitergeht. Richtung München, oder war es Berlin- Schöneberg, dort wo er seit acht Jahren lebt? Sein Flieger geht um fünf nach halb vier. Viel Zeit noch, sagt er, dann könnten wir ja noch in Ruhe essen.

Das wahre Leben also. Ein Film über den ganz normalen Wahnsinn in unsicheren Zeiten: Roland Spatz (Ulrich Noethen) verliert seinen Job, steht vor dem Nichts. Vor einer Familie, die ihn und die er nicht mehr kennt. Ehefrau Sybille (Katja Riemann) führt als Galeristin längst ein Eigenleben. Sohn Linus (Joseph Mattes) streift als Pyromane durch die Nachbargärten, Sohn Charles (Volker Bruch) outet sich bei der Bundeswehr als Homosexueller. Die gegen ihre Familie rebellierende Nachbarstochter (Hannah Herzsprung) verführt Bombenbastler Linus und versucht sich im Suff auch am seelisch zerstörten Vater Roland. Nichts als Katastrophen.

Fast zuviel des Guten. "Ja, sagt Ulrich Noethen, wenn man die einzeln aufzählt, mag das stimmen. Aber so ist das eben: Wenn es dicke kommt, dann kommt wirklich alles auf einmal." Der Film sollte eigentlich "Bummm!" heißen. Und durchgeknallt wirkt er auch. Aber gerettet von Ulrich Noethen, der verwirrt und hilflos versucht, sich wiederzufinden. Mit wenigen Gesten, sparsamen, in der Luft hängen bleibenden Sätzen.

Ein Mann der leisen Töne. Ja, sagt er, er mag das einfach gern. Aber man müsse immer aufpassen, dass man nicht in so eine Schiene gerät. Die leisen Töne würden auch eine gewisse Konfliktscheu beinhalten, eine Harmoniesucht. "Laute Töne erfordern Mut, die Konfrontation, dieses ,Hoppla, jetzt komm ich'."

Er hat Angst vor solchen Schienen. Wie der des "ewig Netten". Am Anfang seiner Karriere vor der Kamera, vor dreizehn Jahren, "da hieß es sehr schnell: ,Der Ulli ist ein netter Mensch. Ein bisschen harmlos , ein bisschen langweilig' - so habe ich das zumindest empfunden."

Er ist drüber weg. Aber trotzdem. Er hadert manchmal damit, dass er für einige Rollen gar nicht in Frage komme: für Hardcore- Typen, leidenschaftlich feurige Liebhaber.

Sieht er sich denn so?

Wer könne schon von sich selbst sagen, wer er ist, sagt er. Er beneide Leute, die einen ganz klaren Standpunkt haben, sich genau einordnen können, die sagen: ich bin so und so. Beim Essen jedenfalls hat er einen ganz klaren Standpunkt: "Rucola", sagt er, "schmeckt interessant, ist aber lästig auf die Gabel zu kriegen." Er nimmt lieber Pasta.

Der 47-jährige Ulrich Noethen hat lange die Liebe zur Schauspielerei in sich gespürt. Das war in seinem Zuhause nicht sonderlich gefragt. "Und sich auf dem freien Markt zu behaupten, das bekommt man in einem Pfarrhaushalt nicht mit." Sein Vater Theologe und Pfarrer in Neu-Ulm und Augsburg, die Mutter voll eingebunden in die Gemeindearbeit. Drei Brüder hat er, eine Schwester. Ulrich Noethen ist der Jüngste. Ein Elternhaus mit klaren autoritären Strukturen. Gegessen wird gemeinsam. Der Vater, den er sehr verehrt und zu dem er aufschaut, trifft Entscheidungen im Alleingang.

Ulrich Noethen geht zur Bundeswehr. Fernmeldeaufklärung Tastfunk. Einheiten, die die Netze im Ostblock abhören. Morsezeichen zuordnen. Hier, sagt er. "Gästekarte geht so: dadadiddiddada. Sie können es überprüfen lassen." Das ist das Kreuz mit Ulrich Noethen. Er wirkt bei allem so todernst, dass man die Komik dahinter nur ahnen kann, das leichte Augenzwinkern hinter seinem prüfenden Blick verpasst.

Ein Jurastudium folgt. Der Gedanke von Recht und Gerechtigkeit habe ihn fasziniert. Nach drei Semestern ist es aus. Viel zu trocken. Drei Aufnahmeprüfungen an Schauspielschulen in München, Berlin und Wien scheitern. Seine Stückauswahl sei einfach nicht gut gewesen. Ein Eichmann-Monolog unter anderem. Die Frage von Schuld und Verantwortung, ein Thema, das ihn viel beschäftigte. Zu schwer. In Stuttgart klappt es, mit "Romeo und Julia", "Leonce und Lena". Es folgen schnell Engagements in Freiburg, Köln und Berlin. Als das Berliner Schillertheater geschlossen wird, steht er vor dem Nichts. Mitsamt seiner schwangeren Ehefrau, der Schauspielerin Friederike Wagner. Eine Vorabendserie ist die Rettung. Seitdem ist Ulrich Noethen gut im Geschäft.

1997 schafft er den Durchbruch als Ulrich Frommermann in "Comedian Harmonists", erhält dafür den Deutschen Filmpreis als bester Hauptdarsteller. Er ist Herr Taschenbier in "Das Sams", zu dessen Premiere er Tochter Camilla und ihre Freundin einlädt. Und die ihm danach verhalten auf die Schulter klopft, so nach dem Motto: Das hast du gut gemacht, Papa. Camilla ist 13, voll in dem Alter, in dem ihr Eltern schnell peinlich sind. Vor allem der Vater, sagt er, wenn er eine Mütze aufsetzt, auf der Straße pfeift oder neben ihr herhüpft. Aber von ihr hat er auch das gelernt, woran er im Film "Das wahre Leben" als Vater scheitert: "Einfach nur formelhaft abfragen ,Wie war's in der Schule?' führt zu nichts. Man muss miteinander richtig im Gespräch bleiben, dann funktioniert es."

Irgendwann soll Camilla für ein Jahr ins Ausland gehen, eine Fremdsprache richtig lernen. Denn davon träumt Ulrich Noethen für seine Tochter. Er selber würde gern mehr im Ausland spielen. Und Klavierspielen können. So wie seine Geschwister. Er musste Querflöte lernen. Über so was denke er nach, jetzt, wo er auf die 50 zugehe.

Ehefrau Friederike spielt gerade Theater in Zürich, Schnitzlers "Der Reigen". Dann ist er Alleinherrscher in der heimischen Küche. Das liebt er. Im Supermarkt einkaufen, kochen, Geschirr spülen. Per Hand. Weil er so gerne warmes Wasser an den Händen spürt. Und schließlich müssten Töpfe auch richtig gescheuert werden, "sonst brennt das beim nächsten Mal gleich wieder an". Klingt das etwa nach Pedanterie? Aber ja, sagt er. Er neige zu Pedanterie, Besserwisserei und Klugscheißerei. "Aber ich arbeite daran und bessere mich seit Jahren." Das ist so wie mit dem Loben, das müsse er auch noch lernen. "Ich hab da meine Defizite. Ein Familienerbe. Ich steuere immer konsequent auf den Punkt zu, der besser sein sollte, statt erst mal zu loben, was gut ist. Das macht es nicht einfach mit mir."

Zwei Rollen von vielen hat er besonders geliebt: den Kinofilm "Der Boxer und die Friseuse", in dem er den schwulen Frisur Fränki spielt; und den TV-Dreiteiler "Die Patriarchin" an der Seite von Iris Berben. "Da konnte ich Seiten zeigen, die keiner vorher an mir so richtig wahrgenommen hat. Das ist ja das Reizvolle an diesem Beruf. Sich immer wieder neu zu erfinden und zu entdecken." Wie auch in dem gerade abgedrehten Film "Teufelsbraten" nach dem Roman "Das verborgene Wort" von Ulla Hahn, in dem er den daueralkoholisierten und brutalen Vater der kleinen Hildegard spielt. In reinstem Kölsch. So rein, dass der Film nachsynchronisiert werden muss.

Eigentlich könnte er doch ganz zufrieden sein. Der Dauerzweifler Ulrich Noethen. "Nein", sagt er. "Nicht alles, was man sich wünscht, geht in Erfüllung." Pause. "Das perfekte Leben gibt es nicht. Oder kennen Sie das?" "Im Film." Eben, sagt er und schultert seinen Rucksack.