Her mit den starken Kanadierinnen! Die Hitlistenstürmerin Avril Lavigne setzt nicht auf Sexy-Klein-Mädchen-Getue sondern auf Rock und starke Texte. Und da hat sie im eigenen Land viele erfolgreiche Vorbilder.

ie Skater-Jeans, die sie auf dem Cover anhat, sind ihr noch um einiges zu groß. Aber sie trägt sie so selbstbewusst, dass niemand am perfekten Sitz zweifelt. Ähnlich ist es mit dem Etikett "Pop Princess" für eine 17-Jährige, die gerade erst wie aus dem Nichts in der Rock-Szene aufgetaucht ist. Klingt ein bisschen vermessen. Aber auf wen, wenn nicht auf sie, trifft es so maßgeschneidert zu? Die Kanadierin Avril Lavigne scheint momentan viele Gesetze des Musikmarktes über den Haufen zu werfen. Am 4. Juni kam "Let Go", das Debüt-Album der jungen Sängerin und Gitarristin, in Nordamerika raus und landete in der selben Woche unter den Top Ten der Billboard Charts. Ihr erfolgreichster Song, "Complicated", ist seit 17 Wochen dabei und steht zurzeit auf Platz drei. Bei den MTV Video Music Awards wurde sie gerade als bester weiblicher Newcomer geehrt. Und am 9. September startete "Let Go" in Deutschland - wen wunderts, dass die Hitsingle "Complicated" nach so viel US-Lorbeer auch hier auf Platz fünf geklettert ist. "Anything but Ordinary" heißt ein weiterer Song - tatsächlich ist Avril "alles andere als gewöhnlich". Aber gerade in ihrer Heimat ist dies so ungewöhnlich nun auch wieder nicht. Schon Joni Mitchell setzte in den frühen Siebzigern Maßstäbe, was unangepasstes Verhalten betrifft. Die heute 58-jährige Mitchell blieb musikalisch immer unberechenbar und erkundete immer wieder aufs Neue das Terrain im Niemandsland zwischen Pop, Folk und Jazz. Konventionen verabscheut sie: Für ihr Album "Hits" (1996) legte sie sich als Verkehrstote auf die Straße, die von ihren eigenen Klassikern überrollt worden war. K.D. Lang wiederum begann mit Country, ohne sich an die Konventionen der Szene zu halten, und erarbeitete sich konsequent einen eigenen Platz in der nordamerikanischen Singer/Songwriter-Gilde. Alanis Morissette ist eine Art große Schwester des frechen Nachwuchses: Sie starte 1995 rebellisch mit "Jagged Little Pill" und räumte Grammys ab (unter anderem den fürs Album des Jahres). Auf ihrer neuen CD, "Under Rug Swept", bekennt sie sich jetzt zur romantischen Beziehung - aber der reichhaltige kanadische Nachwuchs streitet weiter um den Part der zornigen jungen Frau. Als Erste unter vielen frechen Frauen gilt Nelly Furtado. Die Kanadierin mit portugiesischen Vorfahren ist vielseitig und einfallsreich: Sie greift an Einflüssen auf, was ihr gefällt, und baut es in ihre Songs ein - egal, ob Rap, TripHop oder indische Sounds. Angst vor Four-Letter-Words hat sie nicht: "Shit on the Radio" heißt einer ihrer Songs. Kleine Spitzen gegen die cleane Konkurrenz in den USA hält sie auch bereit: "Wie Britney sich dem Massengeschmack anbiedert, finde ich fürchterlich. Meine Musik ist natürlich in mir gewachsen." So ein Spruch könnte auch von Avril Lavigne kommen. Im Gegensatz zu Britney Spears will sie nicht jedermanns Darling sein und schon gar nicht eine rätselhafte Lolita. Avril fühlt sich manchmal wie ihre Jungs in der Band. Sogar gegen eine ehrliche Prügelei unter Mädchen hat sie nichts einzuwenden, wie kürzlich aus den USA berichtet wurde. Aufgewachsen ist sie in dem 5000-Seelen-Städtchen Napanee in der Provinz Ontario. Aber ihre Homepage-Legende lässt keinen Zweifel daran, dass sie von Anfang an wusste, wo sie hin will. Schon früh, heißt es, habe sie Konzerte im eigenen Zimmer gegeben: das Bett war die Bühne, Avril sang aus Leibeskräften und vor Tausenden imaginärer Zuhörer. Als Jugendliche sang sie bei jeder Gelegenheit: Gospels im Kirchenchor, Country-Festivals und Talent-Wettbewerbe folgten. Entdeckt wurde sie schließlich von Nettwork in Vancouver. Und das lässt aufhorchen. Denn die haben auch schon Newcomer wie Sarah McLachlan groß rausgebracht. Avril Lavigne wurde mit 16 zur Arbeit im Studio nach New York eingeladen. Dort, so erzählt sie, sollte etwas für sie geschrieben werden - was sie aber nicht wollte: "Ich musste meine eigene Musik machen." Der Durchbruch sei dann in Los Angeles gekommen, als sie mit Clif Magness den richtigen Produzenten traf. Ihre Geschichte ist fast zu schön, um wahr zu sein. Denn dass auf einem Debüt-Album gleich mehrere Top-Ten-Hits versammelt sind - so viel musikalische Reife traut man selbst einer hochbegabten 17-Jährigen nicht zu. So vermuten Lästerer, Avril sei eine "record-company creation" - nicht ganz abwegig, denn um den lukrativen Markt der Teens zu bedienen, lohnt sich eine aufwendige Legendenbildung. Einigermaßen sicher aber scheint zu sein, dass die Texte von Avril selbst stammen. Zeilen wie zum Beginn des Ohrwurms "Sk8er Boi" (Skater Boy) traut sich wohl heutzutage wirklich nur jemand zu schreiben, der ganz neu im Geschäft und noch sehr jung ist: "He was a boi she was a girl can I make it anymore obvious / He was a punk she did ballet what more can I say." Trotzdem: Auch solche Texte funktionieren, weil Avril Lavigne authentisch wirkt. Und so etwas können selbst die gerissenen Marketingstrategen nicht erzwingen. Am 27. September wird Avril 18. Nach dem erfolgreichen CD-Debüt will sie jetzt erst mal ausgiebig touren. Am 16. September ist sie für ein einmaliges Deutschland-Konzert in Köln (Prime Club, der Eintritt kostet 12 Euro). Danach steht irgendwann das zweite Album an, das ja bekanntlich immer das Schwierigste ist. Ein wohlmeinender Kritiker empfiehlt ihr im Internet, sich beizeiten darüber klar zu werden, wer sie eigentlich ist - bevor es andere für sie tun. Irgendwie überflüssig, der Rat: Denn in dieser Frage geht es Avril Lavigne nicht anders als den meisten Mädchen in ihrem Alter. Joni Mitchell setzte Maßstäbe, Alanis Morissette ist die große Schwester. Die Jüngeren streiten weiter um den Titel "zornige junge Frau".