Die Stimmung lässt es überdeutlich werden: Es ist etwas faul in der Lagunenstadt vor der Küste Venetiens, aber anders als vermutet. Venedig versinkt nicht, es wird Kaputtgenutzt. Und keiner tut etwas dagegen.

Massimo Cacciari ist ein schmaler Mann mit angegrautem Vollbart und schwarzen Haaren, die ihm in einer weichen Welle ins Gesicht fallen. Hält ihn jemand für jünger als 50, bricht er in nervöses Kichern aus, fragt man ihn nach Fakten, verliert er sich im Offensichtlichen oder Nebulösen. Dabei ist der Mann eigentlich ganz ernst. Ein freundlicher Philosoph und Schöngeist, weshalb er auf den ersten Blick perfekt dorthin passt, wo er lebt und arbeitet: Cacciari, 62, ist Bürgermeister von Venedig.

23.30 Uhr, immer noch 34 Grad Hitze im Innenhof neben der Basilika von Sankt Markus. Am gesponserten Büfett, auf dem der Wein von Ferrari stammt, verrät Cacciari auf keinen Fall Geheimnisse: "Wir geben mindestens 100 Millionen Euro jährlich aus, um Venedig zu retten." - Und was kann er sonst noch tun? "Nichts, das machen alles die Kommunen und die Institutionen. Kommissionen verteilen das Geld. Es gibt ja Stiftungen in aller Welt, die für Venedig sammeln."

Das Gespräch am Rande des Konzertes einer dieser Stiftungen, "Save Venice", ist in gewisser Weise auch Symptom und Teil der Szenerie, die der New Yorker Autor John Berendt in seinem neuen Buch beschreibt: "Die Stadt der fallenden Engel" (Pendo Verlag, 411 Seiten; 22,90 Euro). Berendt, auch Autor des Bestsellers "Mitternacht im Garten der Lüste", den Clint Eastwood verfilmte, kam 1996 nach Venedig, als über der grünen Lagune noch Brandgeruch waberte. Er suchte etwas - und fand es unter kokelnden Ruinen: Ein neues Thema. Geheimnisvoll, spekulationsoffen, eingebettet in die vielleicht anziehendste Stadt der Welt, Venedig. "La Fenice", das berühmte Opernhaus, war drei Tage zuvor abgebrannt. Die Ursachen lagen im Dunkeln - Brandstiftung, Verschwörung? Schlamperei?

Als früherer Herausgeber des "New-York"-Magazins und Mitherausgeber des "Esquire" war Berendt Profi genug, um daraus etwas zu machen; und als ehemaliger Mitarbeiter einer Satirezeitschrift Beobachter genug, um Menschen und Zustände in ein lebendiges, süffig zu lesendes Sittenbild zu fassen. Er recherchierte und brachte alles, was mit dem Brand zu tun gehabt haben könnte, in einer schön detaillierten Geschichte unter. "Ein Sachbuch", meint er. De facto liest es sich wie ein Roman. Alle Namen stimmen, und die meisten Personen, die vorkommen, leben noch.

Berendt trifft den Maler Ludovico De Luigi, der jede Menge Engel surrealistisch durch Venedig-typisches Ambiente fallen lässt, er begegnet Nachfahren der Dogen und spricht mit dem "Rattenmann" über Vernichtung. Er sitzt mit einem Mond-affinen Palazzobesitzer zusammen und trifft Alt-Venediger wie den Conte Giovanni Volpi, dessen Familie die Elektrizität nach Venedig gebracht hat und dessen Vater das Filmfestival gegründet hat.

Und er begegnet Archimede Seguso, dem 86 Jahre alten Senior einer Glasmanufaktur, der von seinem Fenster aus sah, wie der Brand sich voranfraß. Ein venezianisches Urgestein, dessen Familie seit 600 Jahren in Murano Glas bläst, und eine Art lebendiger Verkörperung Venedigs. Einer, der Liebe zur Sache und zum Ort aufbringt, mit Handwerk, Tradition und einem Händchen für Schönheit, mit Einsatz, Verharren und unverfälschter Lebensart. "Er war kein Mann der Worte, er war ein Mann der Tat", verrät Berendt. Seguso starb 1999.

"Alles, was mein Vater gemacht hat, ist schön", findet sein Sohn Gino am Morgen nach dem "Save-Venice"-Konzert in seiner Glasbläserei. "Aber noch schöner fasst es sich an." Und Enkel Antonio, der seinen Großvater als einen seiner besten Freunde ansah, erzählt: "Ich komme aus einer der berühmtesten Glasmanufakturen der Welt. Ob in Museen von New York oder Brasilien, alle kennen meinen Namen."

Als Antonio ein kleiner Junge war, hat sein Großvater ihn oft nach Murano mitgenommen. "Er setzte schon um halb vier morgens über und erklärte nichts. Er war ein schlechter Lehrer, aber ein guter Macher. Wenn ich ihn fragte, ,Wie geht das?', sagte er einfach: ,Frag nicht, mach es.'"

Im Buch beruhigt Archimede verzweifelte Feuerwehrmänner vor der abgebrannten Oper: "Ihr habt Venedig gerettet!" Was stimmte: Das Feuer hatte nicht auf die Stadt übergegriffen. Aber die Rettung Venedigs war nur ein Teil der Wahrheit. Auch, wenn La Fenice inzwischen für 88 Millionen Euro wieder aufgebaut wurde, kann kaum verborgen bleiben, dass die Lagunenstadt selber ein Patient geblieben ist, in der sich Irreparables anbahnt: Das Verschwinden des Geistes.

Er schien mit Venedig so verbunden zu sein wie der Untergang, der bis heute einen Teil seiner Existenz prägt - und sichert. Inzwischen aber stimmt etwas nicht mehr im Innern Venedigs. Der Flair der Stadt, jahrhundertelang durch Weltoffenheit und gewachsene Kultur geprägt, wird untergraben. Bot Venedig noch vor 40,50 Jahren eine unvergleichliche Kulisse für Liebende aus aller Herren Länder und vereinte Geschichte, Schönheit und Charme zu einer Atmosphäre, die nirgendwo sonst auf der Welt so stimmig zum Ausdruck kam, ist heute jeden Tag Großkampftag.

Vorm berühmten Cafe Florian auf dem Markusplatz stolpert man, obwohl der Boden vor gar nicht langer Zeit ersetzt worden ist: verformt von den Füßen Tausender Touristen, die sich, Schulter an Schulter, am Dogenpalast vorbeidrängen, die Gassen und Plätze bevölkern und beschmutzen, immer bereit zum Taubenfüttern für ein Foto. Kreuzfahrtpublikum und andere Tagesaus-flügler sind abends schon wieder weg. Bis zu 90 000 Touristen kommen täglich, 17 Millionen im Jahr. "Sie nutzen Venedig nur ab und aus", sagt John Berendt.

Da kann die gute Nachricht, dass Venedig nicht mehr sinkt, kaum trösten, zumal es doch vom steigenden Wasserspiegel bedroht wird. Aber mehr noch fühlen sich Venezianer von den Menschenmassen gefährdet. Glasbläser Antonio Seguso sieht dabei vor allem zwei Probleme: "Den Transport - für Einheimische viel zu teuer, und wenn sie ins Vaporetto steigen wollen, ist es voll. Zweitens: den Müll. Jeden Morgen sammeln zig Boote die Hinterlassenschaften der Touristen ein. Und es wird immer mehr."

Auch "Save-Venice"-Chefin Franca Coin erschreckt das täglich neu, wenn sie durch die Stadt joggt. Es ist noch nicht lange her, da machte ein wahres Politiker-Wort die Runde: "Die Venezianer quälen ihre Touristen, indem sie sie ausnehmen wie Weihnachtsgänse, weil sie wissen: Die kommen nur einmal im Leben." In Wirklichkeit bleibt nicht mal Geld in der überteuerten Stadt. "Die Händler verkaufen doch nur wertloses Zeug", weiß Franca Coin.

"Hier will sowieso keiner mehr wohnen, außer uns paar Gestrigen", fürchtet ein kleiner Buchhändler. Tatsächlich lebten vor 30 Jahren noch 176 000 Menschen in Venedig, heute sind es noch knapp 60 000, und angeblich werden es jedes Jahr 3000 weniger. "Die alten Venezianer sterben, die Jungen wollen nicht bleiben, weil es keine Arbeit und kein angemessenes Leben für sie gibt", weiß Antonio Seguso, selbst 39, "Und auch keine bezahlbaren Wohnungen."

Berendt, der Autor aus Amerika, sieht das so: "New York ist Gegenwart, das Motto ist ,Jetzt'. In Venedig ist alles nur Vergangenheit." Aber niemand tut etwas dagegen. Und so sitzt Conte Giovanni Volpi in seinem Haus auf der Giudecca und wettert in seiner distanzierten Art gegen die Politiker, die sich nicht bewegen; auch nicht der Philosoph im Rathaus, dem John Berendt ohnehin schon Schwarz auf Weiß eher Erschöpfung als Tatkraft beschieden hat.

Für den Conte sind nicht nur lauter gierige Immobilienspekulanten am Werk, "Venedig hat sich selbst auch als das nicht ausdehnbare Disneyland der Welt manifestiert. Leider hat es keinen Souverän, der anordnen kann, das kein schönes Gebäude für ein Hochhaus abgerissen wird."

Wie lange das noch gut geht, weiß niemand. "Venedig", stellt Franca Coin trocken fest, "braucht Hirn, eine formulierte Aufgabe und Einsatz."