Zweimal im Jahr besichtigen Filmemacher die interessantesten Drehorte in Hamburg - für Spielfilme, Serien und Krimis. Historische Kantinen und versteckte Theater können ebenso gebucht werden wie technische Anlagen für Unfall- und Katastrophen-Szenen. Mehr als 120 Filme entstehen jedes Jahr in Hamburg. Ob kleine oder große Budgets - hier findet jede Crew die richtige Kulisse.

Irgendwie erinnert mich dieses kleine einstöckige Haus an das gruselige Motel aus Hitchcocks Klassiker "Psycho". Die alte Oberhafenkantine quetscht sich an die Bahnbrücke, die Mauern aus dunkelbraunen Klinkersteinen sind so stark geneigt, daß sie den Gästen fast vor die Füße fallen. Vor den Fenstern sind dicke Gitterstäbe angebracht. Jeden Moment, stelle ich mir vor, tritt der junge Norman Bates aus der schiefen Tür.

Doch was bei dem einen für Schauer sorgt, löst bei anderen Entzücken aus. Bei Markus Kadl (40) zum Beispiel. Kadl ist Motiv-Aufnahmeleiter und sieht genauso aus, wie man sich Leute vom Film vorstellt: Zu Jeans und hellem Poloshirt trägt er eine grüne Weste mit unzähligen kleinen Taschen und hält einen Fotoapparat in der Hand. Lange Locken fallen ihm auf die Schultern - wie einem klassischen "Kreativen". Mit dem Blick des Profis betritt Kadl die Schwelle der alten Kneipe am Ende der Stockmeyerstraße in Nähe der Deichtorhallen. Hier haben Tausende Barkassenführer und Schauerleute ihr Mittagessen verspeist. Aber während der unbedarfte Gast noch das urige Kantinen-Ambiente der schiefen Räume genießt und die alten Kacheln im Erdgeschoß bewundert, checkt Kadl nüchtern, worauf es beim Film tatsächlich ankommt: Können die Räume richtig ausgeleuchtet werden? Hat die Filmcrew genügend Platz zum Drehen?

"Hier könnte eine Szene in einem Krimi spielen", sagt Kadl. "Und wenn man das richtige Licht nimmt, vielleicht auch eine Liebesszene." Markus Kadl ist seit zehn Jahren im Geschäft und arbeitet für große Produktionen wie die ZDF-Serie "Bella Block".

Mehr als 120 Filme werden jedes Jahr in Hamburg gedreht. Darunter auch so bekannte TV-Serien wie "Großstadtrevier", "Doppelter Einsatz", "Die Rettungsflieger", "Die Anwälte". Damit nicht in jedem Streifen Hafendocks oder die Reeperbahn auftauchen, sind Leute wie Markus Kadl ständig auf der Suche nach neuen Kulissen und interessanten Drehorten. "Ein Drehort ist perfekt, wenn er eine besondere Atmosphäre widerspiegelt", sagt Kadl. Gefällt ihm eine Kulisse, macht er ein Foto und speichert die Daten in seinem Archiv. Benötigt der Regisseur dann eine bestimmte Umgebung, legt Kadl dem Filmteam die Fotos von potentiellen Drehorten vor, besorgt Drehgenehmigungen und organisiert den Dreh. Professionelle Hilfe bei der Suche nach der perfekten Kulisse leistet das Location Büro der FilmFörderung Hamburg. Zweimal im Jahr organisiert das Büro eine Location Tour und zeigt Hamburgs Filmemachern kostenlos Drehplätze, die bisher noch nicht so stark im Scheinwerferlicht standen.

Maximilian Lips nimmt diese Hilfe gern an. Der 34jährige ist Filmstudent an der Hamburg Media School, und in ein paar Wochen wollen er und seine Mitstudenten ihren Abschlußfilm drehen. Ein Agentenfilm soll es werden, mehr darf er nicht verraten. Laut Drehbuch spielt eine Szene in der Lobby eines glamourösen Hotels. "Am liebsten würde ich ja im ,Altantic' drehen", schwärmt Lips. Aber dafür reicht das Budget nicht aus. Im Gegensatz zu den Millionenbudgets großer Filmproduktionen stehen den Media School-Studenten nur 30 000 Euro zur Verfügung. Die reichen gerade mal, um Statisten und Material zu bezahlen. Um in fremden Gebäuden zu drehen, müßten sie den Besitzern in der Regel eine Netto-Kaltmiete pro Tag zahlen. In berühmten und begehrten Restaurants oder Cafes können so Tagesmieten von bis zu 6000 Euro zu Buche schlagen.

Aber Lips, der seine erste Fotokamera im Alter von fünf Jahren geschenkt bekam und später die ersten Szenen auf Super8 aufnahm, arbeitete jahrelang als Kamera-Assistent. Er hat gelernt, zu improvisieren und aus dem Nichts etwas Beeindruckendes zu machen. Eine perfekte Alternative zur "Atlantic"-Hotellobby findet er beim nächsten Stop der Location-Tour - im Eingangsbereich des ehemaligen Hafenkrankenhauses auf St. Pauli. Im Dach der Halle sind große Fenster angebracht, der gesamte Raum ist vom Tageslicht durchflutet. In der Mitte steht ein echter Baum, komplett eingekleidet in eine schräge Säulenkonstruktion aus Licht und Glas. "Mit ein paar Tricks und ein paar Statisten kann man daraus eine Hotellobby machen", sagt Lips und umkreist den Baumstamm mit glänzenden Augen. Illusion ist beim Film ja schließlich alles.

Daniel Schwarz (39) ist aus einer ganz anderen Motivation mit auf die Tour gekommen. Das einzige, was an Schwarz auffällt, ist sein petrolfarbenes Hemd. Während die Filmemacher die Kulissen, die das Location Büro vorstellt, auf ihre Drehtauglichkeit prüfen, steht Schwarz still am Rand der Gruppe, macht Beobachtungen und kritzelt ab und zu etwas in seinen Notizblock. Er ist Drehbuchautor. "Das Drehbuch", sagt er, "ist die Mutter des Films. Mich interessieren nicht die Drehorte, sondern wie die Menschen denken und sprechen."

Auf dem Gelände der Landesfeuerwehrschule wird die Filmschaffenden-Gruppe jetzt von Herrn Schneider empfangen. Herr Schneider ist Feuerwehrmann, aber heute trägt er statt seiner Uniform ein weißes Hemd und eine dunkle Stoffhose. Der Mann liebt klare Worte und ist sehr stolz auf die Möglichkeiten der Landesfeuerwehrschule: "Wir können hier alles anzünden, Menschen, Autos - was Sie wollen", sagt er in einem Ton, als würde er übers Wetter sprechen. Aber die Filmleute verstehen es schon richtig: Hier können auch gefährliche Stunts geprobt und gedreht werden.

Auf dem 8000 Quadratmeter großen Gelände der Hamburger Feuerwehr in Billbrook stehen ausgebrannte Autowracks, zerbeulte und Graffiti-besprühte U-Bahnwaggons und unzählige Feuerwehr-Einsatzwagen. Die Feuerwehrmänner trainieren hier das Löschen von Großbränden; in der "Brandgewöhnungsanlage" erleben sie, wie es ist, in einem engen Container von einem Flammenmeer überrollt zu werden. Für Dreharbeiten stellt die Hamburger Feuerwehr kostenlos Fahrzeuge und Ausrüstung zur Verfügung, Feuerwehrmänner können als Statisten gebucht werden.

Herr Schneider zeigt den Filmemachern, wie künstlicher Rauch hergestellt wird, und erklärt seinen vor Staunen stummen Zuhörern die Brandgewöhnungsanlage mit dem "Flashover-Container". Sofort stellt man sich einen apokalyptischen Film vor, in dem eine kleine Gruppe Überlebender vor der Feuerwalze eines Atomkriegs Schutz in dem Container sucht.

Drehbuchautor Daniel Schwarz ist begeistert und schreibt alles mit. "Hier höre ich Sätze und Wörter, die ich mir nie ausdenken könnte", sagt er. "Jetzt weiß ich, wie Feuerwehrmänner ticken." Das wird Herrn Schneider freuen.

Als letzter Stop der Location Tour steht der Schießstand der Hamburger Polizei in Bahrenfeld auf dem Programm. Die Schießstände liegen mitten in einem Waldstück. Auf einer weißen Pappwand sind die schwarzen Umrisse eines Menschen aufgezeichnet. Zwei Beamte üben gerade. Sie stehen fünfzig Meter vor der Pappwand, brüllen, ziehen Pistolen aus ihren Holstern, zielen auf die Leinwand und feuern. Drei, vier Schüsse donnern durch das Gelände. Dann läuft einer der beiden zur Schießscheibe und zählt die Treffer.

Der Schießstand in Bahrenfeld ist der einzige Ort in Hamburg, auf dem Beamte sogar mit Maschinenpistolen den "scharfen Schuß" üben können. Hier trainiert auch das Mobile Einsatzkommando für Geisel-Befreiungsaktionen.

Daniel Schwarz ist zum ersten Mal so beeindruckt, daß er nicht mehr mitschreibt. Er läuft durch die Schießbahnen und läßt die Szenerie auf sich wirken. Die dunklen, schweren Holzbalken, die jede Schießbahn in Abstände teilen, stehen in fast unheimlichem Kontrast zum friedlichen Grün der Laubbäume. Eine völlig andere Atmosphäre als das lustig-quirlige Ottenser Pflaster in der Filmkomödie "Süperseks", zu der Schwarz das Drehbuch geschrieben hatte. Er lehnt sich an einen Balken. Schreibt er in Gedanken bereits an einer neuen Szene? Wo er diesen Schießstand einbauen könnte, weiß er noch nicht. Aber der Tag habe sich für ihn gelohnt, sagt Schwarz.

In meinem "Film" würde der Kriminalkommissar den Mörder aus der Oberhafenkantine schließlich auf dem Schießstand von Bahrenfeld zur Strecke bringen. Aber was dazwischen passiert, muß ich noch gründlich überlegen.