Millionen Deutsche holen sich ihre Unterwasserwelt ins eigene Wohnzimmer. Die Aquarianer züchten, was der Laich hergibt, und halten Lifestyle-Becken für Fischfolter.

Beim Ehepaar Matthies geht jeden Morgen die Sonne auf. Punkt zehn, egal, ob's draußen stürmt oder schneit. Computergesteuert. Erst mit fahlem Glimmer, dann zusehends heller, bis es nach einer halben Stunde leuchtend strahlt. Derart einfühlsam ins Licht gesetzt, kann für 200 rote Neonfische und Beilbauchsalmler der Tag beginnen.

Mit dem großen Aquarium mit gut und gerne 750 Liter Wasser im Wohnzimmer hat sich Heide Matthies längst angefreundet, mit den anderen Zierfischbecken in der Mietwohnung ebenso. Nur der Blick in den Tiefkühlschrank ist immer noch gewöhnungsbedürftig: Neben Gulasch und Rouladen frieren hier Mückenlarven, Wasserflöhe und, besonders schmackhaft, Wasserhüpflinge. Damit die schwimmenden Freunde gestärkt durchs Becken kommen. Bis um 23 Uhr die Sonne wieder untergeht.

Auch im Hause Evers in Eppendorf muß die Familie Toleranz aufbringen für die Leidenschaft der Männer. Im "Fischzimmer" ist zoologische Fachliteratur untergebracht - neben 40 Süßwasseraquarien. Hier wird gezüchtet, was der Laich hergibt: Purpurprachtbarsche, Schwertträger, Wildguppys, Spitzschwanzmakropoden. Und wenn das Telefon klingelt, ist klar, wer dran ist: Ein anderer "Aquariot", wie sich die begeisterten Aquarianer augenzwinkernd selbst bezeichnen.

Von dieser Spezies existieren mehr, als man denkt. Gut 80 Millionen Zierfische schwimmen in deutschen Becken. Die Firma Juwel aus Rotenburg/Wümme exportiert Jahr für Jahr 150 000 Aquarien. Zwei Millionen dieser durchsichtigen Fischquartiere sind in deutschen Zimmern zu Hause, gut 50 000 allein in Hamburg. 40 000 pflegen ihr Hobby in diversen Vereinen, 25 000 von ihnen sind im Verband Deutscher Vereine für Aquarien- und Terrarienkunde e.V. (VDA) organisiert. Ihr Präsident ist Joachim D. Matthies (59), der mit den gefrosteten Mückenlarven, hauptberuflich Briefmarken- und Münzhändler in den Colonnaden. Geschäftsmotto: "Seit 34 Jahren auf neun Quadratmetern."

Zierfische brauchen weniger Platz. Aber viel mehr als das bekannte Goldfischglas, in dem das arme Tier einsame Runden dreht und alsbald verendet. "Das ist Tierquälerei", schimpft Joachim Matthies. Was ebenso für neue Säulen-Aquarien gilt, die als modernes Lifestyle-Mobiliar angesagt sind. Tatsächlich ist diese scheinbar schöne Unterwasserwelt in Szene-Bars und coolen Büros nichts anderes als Fisch-Folter. Wer sein Office mit einem Hauch Exotik beleben will, kann sich Wasserbehälter mit buntem Inhalt bei Spezialfirmen leasen. Nemo läßt grüßen . . .

Dekadente Auswüchse sind dem gestandenen Aquarianer zuwider. Dieser begreift den Zierfisch als Kumpel, sitzt stundenlang sinnierend vor dem gläsernen Becken, hält nicht selten Zwiesprache mit einem besonders nahen Exemplar. "Irgendwie ist das Treiben der Fische Spiegelbild unseres Innenlebens", philosophiert Hans-Georg Evers (40). Ein elegant schwebender Schwarm farbenprächtiger Süßwasserfische signalisiert Emotionalität und Geborgenheit. Typisch deutsch? Es paßt ins Bild, daß das Aquarium für manchen auch als Symbol der Ära Helmut Kohl gilt - als Garant für Gleichmaß und Gemütlichkeit.

Evers weiß, wovon er spricht. Der Schiffahrtskaufmann und Logistik-Chef des hanseatischen Handelshauses Weber & Schaer sucht auch im Privatleben Wassernähe: In den Ferien geht's ab in ferne Gefilde, in die Paradiese der Unterwasserwelt. In Südostasien, in Amazonien sowie in den afrikanischen Grabenseen erlebt er sein blaues Wunder. Vorausgesetzt, man verzichtet auf Komfort, hat Spaß auf nicht immer ungefährliche Abenteuer mit Tiefgang - und hält sich an Artenschutz und tierische Exportbestimmungen. Zwei Vereinsfreunde wurden jüngst in Manaus für je ein halbes Jahr eingelocht.

Der seriöse Aquarianer organisiert den Nachschub auf legalem Wege, über Zierfischzüchter vor Ort. Via Internet und E-Mail sind sich "Aquarioten" in aller Welt ganz nah. Hans-Georg Evers hat Hunderte Fachartikel und zehn Bücher in mehreren Sprachen veröffentlicht. Darunter ein zweibändiges Werk, das in Fachkreisen als "Bibel der Welse" Berühmtheit genießt. 2200 Seiten und mehr als 2000 Fotos - da frohlockt der Welsfreund.

Angefangen haben die Fisch-Freaks wie viele andere. In Schulzeiten einen kleinen Glaskasten gekauft, Kies, ein paar Guppys und Wasserpflanzen rein, und los geht der Spaß. Der oft dann endet, wenn die Baumarkt-Heizung glüht, zu viel Trockenfutter das Wasser trübt, die Brühe gen Himmel stinkt und einstmals stolze Fische mit dem Bauch nach oben an der Wasseroberfläche treiben. Das war's dann. Mutti darf saubermachen, und irgendwann wandert das Aquarium in den Keller oder auf den Flohmarkt.

Wer sinnvoller und länger Freude am Hobby mit dem "Blubb" haben will, sollte gewisse Mindestanforderungen erfüllen. So empfiehlt der VDA, der sich vom 7. bis 9. Mai mit fast tausend Mann (Frauen sind hier eher Exoten) zum Bundeskongreß in Norderstedt trifft, Aquarien ab ein Meter Länge und 200 Liter Wasser. Hinzu sollten ein Einführungsbuch, Kescher, Scheibenreiniger, Filter, Filterwatte, das gute Vitakraft, Heizung, Beleuchtung und Brutkasten kommen. 250 Euro kostet diese Grundausstattung. Mindestens. Von sogenannten "Startersets" zum Dumpingpreis raten Fachleute ab. Die Fische selbst kosten in der Regel zwischen 1,50 und 25 Euro, in Einzelfällen mehr. So werden für Diskusfische bis zu 500 Euro verlangt. Wasserpflanzen sind für drei bis 25 Euro zu haben.

"Wer sein Werk betrachtet und Spaß am Wasserleben hat, kann leicht vom ,Aquarioten-Virus' befallen werden", weiß Bernd Schmitt (62), Lehrer für Mathe und Bio aus Schwarzenbek. In knallharten DDR-Zeiten mußte der Aquarianer seine Leidenschaft in Zeitz in Sachsen-Anhalt mit Stasi-Terror bezahlen. Devisen durch Zierfischhandel und Westkontakte waren der SED nicht geheuer. "1982 durfte ich ausreisen", sagt er, "und meiner Reiselust frönen."

50 Aquarien stehen daheim. Zweimal im Jahr wird dem Lockruf von lebendgebärenden Zahnkarpfen, Regenbogenfischen und anderen schillernden Wasserwundern gefolgt. Mehr als 15 000 Meer- und Süßwasserfische soll es weltweit geben. Daß ein paar tausend Arten noch nicht entdeckt sind, steigert den Reiz.

Der im Ansatz schon Mitte des 19. Jahrhunderts den in der Zunft legendären Emil Adolf Roßmäßler kitzelte, welcher mit seinen Veröffentlichungen "Der See im Glase" sowie "Das Süßwasseraquarium" das Freizeitvergnügen begründete. Am 3. Dezember 1904 wurde in einem Restaurant in der Kaiser-Wilhelm-Straße 63 der erste Aquarien-Verein Hamburgs, der traditionsreiche "Roßmäßler", ins Leben gerufen.

Seitdem ziehen sie mit Gummistiefeln und Keschern hinaus in die Tümpel der Nachbarschaft. Dort, wo sich Flöhe, Larven oder Hüpflinge tummeln. Allerdings möge die Erfahrung eines "Aquarioten" als Mahnung dienen. Der gute Mann hielt seine Würmer im Wasserkasten seines Gäste-Klosetts. Bis seine Frau das stille Örtchen einmal nutzte und ob der sichtbaren Fremdkörper den Arzt aufsuchte . . .