Dierk Strothmann über Solidarität, Prügel und zarte Pflänzchen

Nein, als Hochburg des Radsports kann man Hamburg nicht bezeichnen, auch wenn hier der erste Fahrradclub Deutschlands gegründet wurde. Das war vor 140 Jahren, genau am 17. April 1869. Und es war in Altona, wo sich ein paar Unerschrockene im "Eimsbütteler Velocipeden-Club" zusammentaten, um das "Velociped-Reiten" zu fördern.

Die Mitglieder des Vereins waren in der Regel betuchte Leute, denn nur sie konnten sich damals das neue Hobby leisten. Fahrräder waren ausgesprochen kostspielig. Ein Tretkurbelrad (ein Hochrad mit einem riesigen Reifen vorn und einem kleinen hinten) kostete damals um die 600 Mark, und es sollte noch bis ins nächste Jahrhundert dauern, bis der Preis (dann für ein sogenanntes Niedrigrad, wie wir es heute noch kennen) auf 70 und schließlich auf 35 Mark gesunken war. Für Arbeiter war das unerschwinglich. Sie schlossen sich erst viele Jahre später in Radfahrvereinen zusammen, meist mit dem Zusatz "Solidarität" im Namen.

Die Hochräder der ersten Jahre waren schwer zu beherrschen, erreichten aber beeindruckende Geschwindigkeiten und ließen leicht jeden Reiter hinter sich - was diese natürlich maßlos ärgerte. Und sie waren nicht die Einzigen, denen die Stahlreiter ein Dorn im Auge waren. Da waren vor allem die Fuhrleute, die damals die Straßen beherrschten. Es war gar nicht so selten, dass es sogar Prügel setzte, sodass die Londoner "Times" sogar von "Terror to the streets" schrieb.

Und da Altona damals preußisch war, herrschte auch in den Amtsstuben ein entsprechend autoritärer und alles andere als liberaler Geist. Aber die wackeren Altonaer Velocipedisten ließen sich davon nicht entmutigen. Am 10. September 1869 veranstalteten sie während einer Industrieausstellung sogar ein erstes Rennen, an dem auch Gäste aus Frankreich, Dänemark und England teilnahmen. Es war das erste große internationale Radrennen in Deutschland, und es kann durchaus als Urahn der Cyclassis gelten, jenes Rennens, in dem seit einigen Jahren die Weltklasse durch Hamburgs Straßen rollt - am 16. August zum 14. Mal.

Wer weiß, was vor 140 Jahren aus dem zarten Pflänzchen des Radsports einmal hätte werden können, wenn nicht wenige Monate nach diesem Rennen, am 19. Juli 1870, der deutsch-französische Krieg ausgebrochen wäre und damit praktisch alle zumindest sportlichen Aktivitäten auf Eis gelegt wurden.

Altona und Hamburg konnten nie an die historische Pioniertat anknüpfen. Als zehn Jahre nach Ende des Krieges, 1881, die ersten Radsportvereine entstanden, war das woanders. In München entstanden innerhalb kürzester Zeit gleich zwei Radrennbahnen. Fast gleichzeitig lief auch in Berlin das erste Radrennen auf den Parkwegen eines Gartenrestaurants.

Ja, und vor ziemlich genau 100 Jahren, am 15. März 1909, startete in der Hauptstadt das erste Sechstagerennen, das im Laufe der Jahre ein gesellschaftliches Großereignis wurde. Heute dreht sich das Radrennfahrer-Karussell nicht nur in Berlin, sondern auch in Dortmund und in München. Wer es heute nicht so weit zu einem Sechstagerennen haben will, der muss nach Bremen fahren. Das ist zwar bitter, aber es gibt Schlimmeres ...