Teil 1 - Operation Gomorrha: Als 700 britische Bomber Kurs auf Hamburg nahmen.

Wenn die Sonne schien, empfanden die Menschen das nicht mehr als Glück. Spannte sich der weite norddeutsche Himmel wolkenfrei und in makellosem Blau über die Hansestadt, schauten die Hamburger sorgenvoll nach oben. Vor allem nachts, wenn die Sterne funkelten und der Vollmond die verdunkelte Stadt in verräterisch helles Licht tauchte, hatten viele Menschen Angst und sehnten sich nach Nieselregen und tief hängenden Wolken, dem grauen Einerlei des Hamburger Schmuddelwetters, über das sie sich zu normalen Zeiten gern beklagten. Aber normal waren die Zeiten nicht mehr im glutheißen Sommer des Jahres 1943. In der Nacht vom 27. auf den 28. Juli nahmen etwa 700 britische Bomber Kurs auf die zweitgrößte Stadt des Deutschen Reiches. Die 30 Tonnen schweren, viermotorigen Lancaster formierten sich zu einem "Bomberstrom" von mehr als 300 Kilometer Länge. Sie bildeten eine gewaltige Formation, die eigentlich das deutsche Radar hätte orten müssen. Aber diesmal blieben die Radarposten blind, die Horchstationen taub, unfähig, die deutschen Jäger zu alarmieren, die Flak-Mannschaften zu warnen, die Verteidigung zu organisieren. Etwa 50 Kilometer, bevor die Bomber die deutsche Nordseeküste erreichten, hatten die Mannschaften damit begonnen, 24,5 Zentimeter lange und zwei Zentimeter breite Streifen aus Metallfolie abzuwerfen. Insgesamt 90 Millionen dieser Stanniolstreifen regneten vom Himmel und ließen die deutschen Radargeräte verrückt spielen. Die deutsche Luftabwehr konnte nicht erkennen, wie viele Bomber unterwegs waren und über welcher Stadt sie in dieser Nacht Tod und Verderben bringen würden. Die 80 Hamburger Flak- und 22 Scheinwerfer-Stellungen wurden damit ebenso ausgeschaltet wie die Jäger der deutschen Luftwaffe, die sonst für die schwerfälligen Lancaster-Bomber eine ernste Bedrohung waren. Diesmal hielt nichts die Bomber auf, deren Spitze gegen ein Uhr das Hamburger Stadtgebiet erreicht hatte. Was konnten die jungen Männer an Bord der Lancaster aus 4000 Meter Höhe von der Stadt sehen, die sie jetzt bombardieren sollten? Was wussten sie von Hamburg? Hatten sie von der Reeperbahn gehört, von St. Pauli, vom Hafen? Hatten sie eine Vorstellung von dem, was sie in wenigen Minuten da unten bewirken, ausrichten, anrichten würden? Die meisten von ihnen wussten nichts, und sie sahen nichts. Wie immer hatte man ihnen gesagt, sie würden militärische Ziele und Anlagen der Rüstungsindustrie bombardieren. Piloten, Bordingenieure, Navigatoren, Funker, MG- und Bombenschützen, die stundenlang in drangvoller Enge unterwegs waren, hatten vor allem Angst, Todesangst, denn sie mussten einen in jeder Hinsicht mörderischen Job erledigen: Junge Männer, meist kaum älter als 20, hatten sich zu insgesamt 30 Einsätzen verpflichtet - nur jeder Dritte sollte am Ende überleben. Aber in dieser Julinacht über Hamburg erlitt die britische Bomberflotte kaum Verluste. Wenn die Piloten durch ihre Glaskanzeln nach unten sahen, konnten sie nicht viel von der Stadt erkennen, kaum Straßen, keine Häuser, sondern nur viele Lichtpunkte, Leuchtmarkierungen in Rot, Grün und Gelb. Diese Orientierung gab ihnen ein Vorauskommando, die so genannten Pfadfinder-Flugzeuge, die - dirigiert von einem in 8000 Meter Höhe kreisenden Masterbomber - die Abwurfzone farbig absteckten. Für alle Hamburger Großangriffe von 1940 bis 1945 war die Nikolaikirche der Zielpunkt. Der mit 145 Metern nach dem Kölner Dom und dem Ulmer Münster dritthöchste deutsche Kirchturm, erbaut 1846 - 74 ausgerechnet von einem Engländer, dem Architekten John Gilbert Scott, wies den englischen Pfadfindern den Weg. "Markierungsbomben zeichnen wie ein Leuchtstift eine Fläche ins Dunkle. Die Munitionsträger entladen in diese Fläche hinein. Sie ist der Umriss der Vernichtung. Was innerhalb ihrer Kontur sich befinden mag, ist für den Bomber ohne Belang. Er platziert einen Abwurf in einem Leuchtrahmen. Dieser ist anzubringen, wo das Stadtzentrum vermutet wird; das besorgen Markierer, während den Bomber der Zuschnitt des Maßnahmegebiets nichts angeht", schreibt der Historiker Jörg Friedrich in seinem Buch "Der Brand" über die Technik der Zielmarkierung. Für die Bomber-Besatzungen blieb das Ziel abstrakt, sie bombten nicht auf Straßen, Häuser, Kirchen, nicht auf Menschen, schlafende Kinder, schreiende Frauen, sondern nur auf Farbflächen. Es war zwei Minuten nach ein Uhr, als die erste Bombe abgeworfen wurde. Wahrscheinlich traf sie einen Häuserblock an der Wendenstraße in Hammerbrook, genau weiß das niemand. Was in den folgenden drei Stunden geschah, blieb bis dahin ohne Beispiel, erinnert an Katastrophen biblischen Ausmaßes. Ob es Arthur Harris, Churchills Luftkriegschef, persönlich war, der sich den Decknamen "Operation Gomorrha" hatte einfallen lassen? Im 1. Buch Mose, Kapitel 19 heißt es: "Da ließ der Herr Schwefel und Feuer regnen vom Himmel herab auf Sodom und Gomorrha und vernichtete die Städte und die ganze Gegend und alle Einwohner der Städte und was auf dem Lande gewachsen war." Um aus Hamburg Gomorrha werden zu lassen, hatten britische Experten umfangreiche Untersuchungen angestellt, hatten die Brennbarkeit der ortsüblichen Bauweise untersucht und die Bombentechnologie - die Mischung der verschiedenen Bombenarten, deren Dimensionierung und Einsatzdichte - immer weiter perfektioniert. In Hamburg wurde das Zerstörungswerk außerdem durch die Wetterlage begünstigt. Dazu schreibt Jörg Friedrich: "In der schwülen Hochsommernacht auf den 28. Juli stand die Temperatur zwischen 20 und 30 Grad. Im Zusammentreffen von Klima, Brandmischung, Verteidigungskollaps und Blockbaustruktur trat ein, was Harris' Codewort ,Gomorrha' der Operation unterlegte: Wie Abraham im 19. Kapitel der Genesis schaute er gegen die sündige Stadt und sah: Qualm stieg von der Erde auf wie der Qualm von einem Schmelzofen. Er zerschmolz zwischen vierzig- und fünfzigtausend Personen." Wie in Zeitlupe fielen die 4000 Pfund schweren Minenbomben hinab, die von den Engländern "Blockbuster" oder "Wohnblockknacker", von den Hamburgern aber auf Grund ihrer zylindrischen Form "Badeöfen" genannt wurden. Um eine Stadt wie Hamburg anzuzünden, um sie in einem alles verzehrenden Feuer untergehen zu lassen, mussten Splitter-, Minen- und Brandmunition in genau kalkulierten Reihenfolge und Quantität abgeworfen werden. Die Sprengbomben durchschlugen Dächer, Wände, Mauern und sorgten dafür, dass die Brandbomben genügend entzündliche Nahrung finden würden. Sofort nachdem kurz nach ein Uhr die ersten Bomben eingeschlagen waren, brannten einige Häuser, um etwa 1.15 Uhr waren es schon ganze Wohnblocks, um 1.30 Uhr bildeten Tausende von Häusern ein einziges Flammenmeer. Während sich den Bombercrews ein unglaubliches Schauspiel bot, das manche von ihnen an einen aktiven Vulkan erinnerte, war es für die Menschen in der Stadt das Inferno der Hölle. Es war 2.25 Uhr, als der Dienstführer der Luftschutzleitung Hamburg in sein Protokollbuch einen neuen, bislang unbekannten Begriff eintrug: "Feuersturm". Das, was er gemeldet bekam, überstieg alle Erfahrungen früherer Bombenangriffe, es ließ sich mit keinen bis dahin gebräuchlichen Wörtern beschreiben. Feuersturm bezeichnet ein physikalisches Phänomen. Es entsteht, wenn sich mehrere Brandherde vereinigen. Dann wird die glühend heiße Luft wie in einem Kamin durch den Auftrieb kilometerweit nach oben gesaugt. Am Boden entsteht zugleich ein enormer Unterdruck, der mit unglaublicher Gewalt die Luft aus der gesamten Umgebung in den Brandherd saugt und diesem so neuen Sauerstoff zuführt und ständig neu anfacht. Mehr als fünf Stunden tobte am 28. Juli der Feuersturm, der erst abzuebben begann, als er nicht mehr ausreichend Nahrung fand. Tausende Menschen wurden erfasst, mitgerissen und binnen Sekunden verbrannt. Andere erstickten in den Bunkern, wurden von Mauern oder herabstürzenden Dächern erschlagen, verschüttet, zerquetscht. Der Angriff vom 28. Juli 1943 war der schlimmste, aber nicht der erste, der Hamburg heimgesucht hat. Vom 18. Mai 1940 bis zum 17. April 1945 war die Hansestadt Ziel von insgesamt 213 Luftangriffen. Bei der "Operation Gomorrha", die zwischen dem 25. Juli und dem 3. August insgesamt sechs Angriffe umfasst hat, wurden nach Angaben der Hamburger Historikerin Ursula Büttner insgesamt 4491 Tonnen Spreng- und 4192 Tonnen Brandbomben auf Hamburg abgeworfen. Das kostete 34 000 Menschen das Leben - 82 Prozent aller Hamburger Luftkriegsopfer. Es gab 125 000 Verletzte, und 900 000 Menschen wurden obdachlos. Mehr als die Hälfte aller Wohnungen und ein großer Teil der öffentlichen Gebäude, Krankenhäuser, Schulen und Bahnhöfe waren zerstört. Erst Mitte August war die Strom-, Wasser- und Gasversorgung zumindest notdürftig wieder hergestellt. In Hamburg leben heute noch etwa 200 000 Menschen, die 65 Jahre oder älter sind und sich an den Feuersturm erinnern können. Aber wie verarbeitet man so ein grausames Erlebnis, auch wenn es inzwischen sechs Jahrzehnte zurückliegt? Das Hamburger Abendblatt hat Zeitzeugen gesucht und seine Leser gebeten, sich an das Geschehen vor 60 Jahren zu erinnern. Die Resonanz war überwältigend. Die Redaktion erhielt viele Briefe, Tagebücher und Augenzeugenberichte, in denen sich Menschen erinnern und ihre Geschichten vom Sterben und Überleben erzählen - bewegende Geschichten, die manche zum ersten Mal berichten. In der kommenden Woche wird das Abendblatt täglich eine Auswahl davon abdrucken und zugleich über die verschiedenen Aspekte der "Operation Gomorrha" berichten. Warum haben britische Bomber vor allem Wohngebiete angegriffen und damit Zivilisten getötet, während die kriegswichtigen Hafenanlagen erst später von der US-Luftwaffe zerstört wurden? War das Konzept des "Moral Bombing", also die Angriffe gegen die Zivilbevölkerung, erfolgreich? Wurde damit eine Demoralisierung erreicht und der Krieg verkürzt, wie Arthur Harris, der Chef des Bomber Command, bis an sein Lebensende glaubte? Oder waren die Überlebenden des Bombenkriegs einfach nur abgestumpft? Welche Auswirkungen hatten die Bombardements auf Hamburgs Stadtbild? Waren die Opfer in der Zivilbevölkerung tatsächlich ein Tabu-Thema, und wie sind sie in der deutschen Literatur dargestellt worden? Diese und andere Fragen werden wir in unserer zehnteiligen Serie "Hamburg im Feuersturm" thematisieren, begleitet von historischen, zum Teil bisher unveröffentlichten Fotos. Gewiss, der Krieg war von Deutschland begonnen und vor allem im Osten von Anfang an auf verbrecherische Weise geführt worden. Und bevor die ersten Bomben auf deutsche Städte gefallen waren, hatten deutsche Flugzeuge ihre Bombenlast auf Guernica, Warschau und Rotterdam abgeworfen. Aber war die von der Royal Air Force betriebene Zerstörung von Wohngebieten und Tötung Hunderttausender Zivilisten deshalb gerechtfertigt? Schon während des Kriegs hatten sich in England vor allem Repräsentanten der anglikanischen Kirche gegen die barbarische Strategie des Bomber Command gewandt. Wie der Bombenkrieg heute völkerrechtlich bewertet wird und wie deutsche und britische Historiker urteilen, wird auch Thema der Serie sein.