Wie besessen hat sie ihr Leben auf 35 000 handgeschriebene Seiten gebannt, die amerikanische Schriftstellerin Anaïs Nin. Jetzt, zu ihrem 100. Geburtstag, sind die freimütigen Tagebücher wieder im Gespräch.

Sie kam davon einfach nicht los. "Viele Tage lang habe ich ohne Rauschgift, mein geheimes Laster, und mein Tagebuch gelebt. Und dann erfuhr ich, ich konnte die Einsamkeit nicht ertragen." Der 40 Jahre alten amerikanischen Schriftstellerin Anaïs Nin war damals, im Herbst 1943, die fast dreißigjährige Zwiesprache mit ihrem Tagebuch längst zur zweiten Natur geworden. Begonnen hatte sie als Elfjährige. Mit Briefen an ihren Vater, die nie abgeschickt wurden. Der berühmte spanische Komponist und Konzertpianist hatte seine Familie verlassen. War mit einer wohlhabenden Geliebten auf und davon gegangen. Die Mutter zog mit ihren drei Kindern nach New York. Schlug sich durch als Gesangslehrerin und Pensionswirtin. Anaïs Nin machte ihrer Verzweiflung Luft. Über den Verlust des heißgeliebten Vaters, ihrer Freunde, ihrer Sprache, ihrer katholischen Erziehung. Später wurde daraus eine tägliche akribische Nabelschau. Alles fand darin seinen Niederschlag. Erlebnisse, Affären, Träume, Ängste, Sehnsüchte und auch ihre Fantasien. Sie schrieb überall. Schleppte das Tagebuch ständig griffbereit in einem kleinen Korb mit sich herum. Wie andere Frauen das Strickzeug. 35 000 handgeschriebene Seiten kamen so zusammen. Zuletzt als Maschinenabschrift auf immer noch mehr als 15 000 Seiten in einem Banksafe deponiert. Dieser Spiegel eines ungewöhnlich leidenschaftlichen Lebens und Zerrbild einer von ständiger Selbstzerfleischung gequälten Seele war Lust und Elend für sie zugleich. Anaïs Nin litt unendlich darunter, dass die ersten von ihr editierten Veröffentlichungen Ende der 60er-Jahre ihrem ohnehin nicht allzu glänzenden Ruf als Literatin von Romanen und zahlreichen Erzählungen für immer den Rang abliefen. Jetzt, zu ihrem hundertsten Geburtstag, sind die aus der Mode gekommenen freimütigen Bekenntnisse einer lebens- und liebeshungrigen Frau wieder im Gespräch. Damals, bei der ersten Veröffentlichung, waren sie ein Skandal. Von Frauen verschlungen, von Männern argwöhnisch durchgeblättert. Sie trafen den Zeitgeist einer nach persönlicher und sexueller Freiheit dürstenden Frauengeneration. Die für heutige Verhältnisse gar nicht mehr so schamlosen Enthüllungen machten Furore. Das war "Sex and the City" im Paris der 30er- und 40er-Jahre. Affären zuhauf. Rauschhaft bis hin zum bisexuellen Dreierpack. Die mit dem amerikanischen Schriftsteller Henry Miller, dessen Sexschocker "Wendekreis des Krebses" sie mitfinanzierte und zu dem sie das Vorwort schrieb. Ihre lesbische Neigung zu Henry Millers Ehefrau June. Ihre Bettgeschichten mit ihren Seelenklempnern Rene Allendy und dem Freud-Schüler Otto Rank. Die inzestuöse Beziehung zu ihrem Vater. Die Liebesbeziehung zu dem peruanischen Revolutionär Gonzalo More auf einem Pariser Hausboot. Der Surrealist Antonin Artaud. Rupert Pole, der Stiefsohn des amerikanischen Architekten Frank Lloyd Wright, mit dem sie zusammen an der amerikanischen Westküste lebte. Ihre voyeuristischen Streifzüge durch das Prostituierten-Milieu. Sie galt als eine allein ihrem Ego verpflichtete Vorreiterin eines sinnlichen im "Hier-und-Jetzt-und-Real-Sein" verankerten, den "klimatisierten amerikanischen Albtraum", so Henry Miller, ablehnenden Lebensstils. Dass sie ständig mit sich selber im Clinch lag, wurde kaum beachtet. Anaïs Nin , die "immer aus dem Vollen lebte und liebte", ging in ihren Tagebüchern gnadenlos mit sich selber um. "Was mir an mir am besten gefällt", schreibt sie, "ist meine Kühnheit, mein Mut. Was ich so sehr hasse, ist meine Eitelkeit, meine Sucht zu glänzen, Applaus zu bekommen und meine Sentimentalität." Mit geradezu fiebriger Aktivität stürzte sie sich in Paris und später in New York in die Künstlerszene. Ein rauschhafter Höhenflug, ständig vom Absturz bedroht. Eine von steter Rastlosigkeit getriebene Frau. "Ich kann nicht ausruhen", vertraute sie ihrem Tagebuch an. "Wenn ich mich hinlege, versäume ich Leidenschaft, dramatische Ereignisse und Abenteuer. Ich bin wie ein mit Flügeln ausgestattetes Geschöpf, das seine Flügel zu selten gebrauchen darf." An amerikanischen Universitäten wurde sie weit bis in die 90er-Jahre in literarischen Seminaren diskutiert. Eine Fangemeinde, die sich in Freund und Feind aufspaltete, als bekannt wurde, dass die ersten Tagebücher nur eine bereinigte Fassung waren. Dass sie aus rechtlichen Gründen und persönlichem Taktgefühl gegenüber damals noch lebenden Personen viel verschwiegen hatte. Ihren Ehemann Hugh Guiler zum Beispiel, einen Banker, den sie mit zwanzig heiratete und zu dessen Seelenheil sie eine zweite Tagebuchfassung schrieb, in der sie ihre leidenschaftliche Affäre mit Henry Miller aussparte. Und der angeblich bis zu ihrem Tod nicht gewusst haben will, dass sie mit Rupert Pole in Los Angeles als Ehefrau zusammenlebte. In Deutschland geriet sie bald in Vergessenheit. Ihre poetisch-pornographischen Bekenntnisse waren überholt. Andere weibliche Autoren wie Erica Jong mit "Angst vorm Fliegen" übernahmen ihren Part. Provozierender und direkter. Auch der Erfolg des bei uns fast unter dem Ladentisch gehandelten Pornoverschnitts "Delta der Venus" von Anaïs Nin war nur kurzlebig. Die aus Geldmangel für hundert Dollar für einen Sammler pornographischer Geschichten geschriebene Auflistung sexueller Variationsmöglichkeiten war offensichtlich mit allzu heißer Nadel gestrickt. Als Anaïs Nin im Januar 1977 in Los Angeles an Krebs starb, gab es einen letzten Skandal. Zwei Todesanzeigen erschienen. Von zwei Ehemännern. Eine in der "Los Angeles Times" mit Rupert Pole. Eine in der "New York Times" vom Ehemann Hugh Guiler. Die Asche ließ ihr jüngerer Bruder und Nachlassverwalter Joaquin von einem Hubschrauber aus über dem Pazifischen Ozean verstreuen. Im Nymphenburger Verlag gibt es jetzt eine Neuauflage ihrer Tagebücher. Die ungekürzten Ausgaben. Von 1921 bis 1974. Eine Reise durch ein mit seltener Intensität geführtes Leben. Dessen schriftliche Fixierung für die Autorin Zuflucht und Schutzwall zugleich geworden war.