Berlin. Auch 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs suchen Menschen über das DRK nach Vermissten. Die Chance auf Klärung ist heute größer.

Es beginnt mit einem goldenen Armband, das die Großmutter oft bei sich trägt. Daran baumeln Anhänger mit Sternzeichen und Geburtsdaten. Jeder Anhänger steht für ein Mitglied der Familie. Auf einem ist zu lesen: „Vermisst im Osten im Juni 1944“.

Lara Rading ist 16 Jahre alt. Sie erinnert sich genau, wie die Großmutter ihr damals vom Urgroßvater, ihrem Vater, erzählte, der im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront eingesetzt war – und seitdem als verschollen gilt. Irgendwann will Lara mehr wissen.

Ein Schicksal von vielen. Auch 74 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs erreichen den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes im Jahr fast 9000 Anfragen. Mehr als 60 Prozent davon konnten 2018 aufgeklärt werden, durch Zusammenarbeit mit Archiven in Deutschland, Russland oder Australien. Ein Todesdatum, ein Ort, ein Friedhof – weil immer mehr Institutionen in Osteuropa ihre Bestände zugänglich machen, ist die Chance auf Klärung heute manchmal größer als früher.

DRK-Vermisstensuche: Was geschah mit Laras Großvater?

„Die Angehörigen wollen einfach Gewissheit über das, was damals geschehen ist“, erklärt DRK-Suchdienstleiterin Dorota Dziwoki die anhaltend hohe Nachfrage. Finanziert wird der Dienst vom Bundesinnenministerium mit gut zehn Millionen Euro jährlich. Gewissheit will auch Lara Rading.

Lara Rading zeigt das Familienarmband.
Lara Rading zeigt das Familienarmband. © dpa | Henning Schacht

Deshalb wendete sich die Schülerin im vergangenen Jahr an das DRK. Einige Monate später dann die Nachricht: Heinrich Evers sei in den Unterlagen des russischen Militärarchivs gefunden worden. Daraus geht hervor: Der junge Mann war in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten, registriert im Lager 112 im Nordwesten der Ukraine. Dort starb er im März 1945 – an „Dystrophie dritten Grades“. Horst Evers war verhungert.

Manchmal stellt sich heraus: Vermisste waren Kriegsverbrecher

Nicht immer sei das Bild des Gefundenen ein positives, gibt später Birgit Wulf vom Bundesarchiv zu verstehen, wo viele Anfragen des Roten Kreuzes eintreffen. Manchmal, sagt Wulf, müssen die Suchenden auch erkennen: Der Vermisste war ein Täter.

Kürzlich etwa sei eine Frau zu ihr gekommen, die berichtete, sie werde in ihrem Dorf verächtlich angeschaut. Ihr Vater soll kein netter Mensch gewesen sein, das wusste sie. „Sie spürte, da muss etwas gewesen sein.“

Anhand der Archivunterlagen stellte sich heraus: Der Vater war Kriegsverbrecher. In welchem Umfang sei bislang unklar, das müssten weitere Nachforschungen ergeben. „Die Frau war geschockt“, sagt Wulf. In solchen Fällen versuche sie, moralische Unterstützung zu geben, erkläre etwa die Hintergründe, wie Menschen rekrutiert wurden.

Grabungen in Russland helfen bei Aufklärung

Wo der Vermisste stationiert war, Dienstgrad, Erkrankung, Einsätze – all das kann man den Unterlagen der ehemaligen Wehrmachtsauskunftstelle im Bundesarchiv entnehmen – so der Vermisste dort registriert war. „Daraus kann man viel von seinem Werdegang rekonstruieren“, sagt Wulf. Auch Grabungen seien eine große Hilfe bei der Aufklärung.

Bis heute untersucht der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge Grabstätten in Russland, sucht vor allem nach Erkennungsmarken, die möglicherweise noch an den Gebeinen der toten Soldaten haften. „Anhand der Marke können wir den Toten dann einen Namen geben“, berichtet Wulf.

Plastikpüppchen identifizierte Toten als gesuchten Bruder

Bei einer der letzten Grabungen sei bei einem der Toten auch ein Plastikpüppchen gefunden worden. Ein Indiz, durch das die Suchende wusste: Es ist ihr Bruder. Bis 2023 soll es beim Suchdienst des DRK die Möglichkeit für Anfragen geben, sagt Leiterin Dziwoki. Dann werde dieses Kapitel geschlossen.

Der Zweite Weltkrieg forderte in Europa und Asien geschätzt mindestens 55 Millionen Menschenleben. Die Sowjetunion zählte mit 26 Millionen die meisten Toten. In Deutschland waren es 6,3 Millionen, darunter fast 5,2 Millionen Soldaten. Zu den Opfern des Nationalsozialistismus gehören zudem etwa 6 Millionen Juden.

Kartei umfasst heute 20 Millionen Schicksale, viele ungeklärt

Zentrale Namenskartei des Suchdienstes in München.
Zentrale Namenskartei des Suchdienstes in München. © DRK | Jörg F. Müller

In den ersten Nachkriegsjahren erreichten den Suchdienst 14 Millionen Anfragen zu Vermissten. 8,8 Millionen Schicksale konnten die Mitarbeiter bis 1950 klären. 1960 waren noch immer über eine Million Anfragen offen – auch zu Kindern, die durch die Kriegswirren von ihren Eltern getrennt wurden. Heute umfasst die Kartei 20 Millionen Schicksale, viele davon ungeklärt.

Archivmitarbeiterin Wulf ist sich sicher: Das Interesse an den Verschollenen reiß nicht ab. „Die junge Generation will heute mehr denn je wissen, was geschah.“ Früher seien Anfragen vorrangig von direkten Hinterbliebenen eingetroffen. Wegen möglicher Kriegsentschädigungen und Rentenansprüche mussten Todesursachen geklärt werden. „Heute geht’s vor allem um die Familiengeschichte.“

Suchinteresse stieg nach ZDF-Dreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“

Der Abstand sei inzwischen groß genug, die Fragenden oft nicht direkt von den Geschehnissen betroffen gewesen. Die heute 60-Jährigen, so Wulf, hätten ihre Großeltern gar nicht fragen dürfen, die eigenen Eltern hätten auch nicht viel gewusst.

Einen Wendepunkte bildete aus ihrer Sicht der ZDF-Dreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“. Plötzlich sei bei vielen das Interesse gewachsen, warum der eigene Opa so reagiert, die Oma manchmal leise geweint habe.

Auch Lara und ihre Familie können nun besser abschließen. Ihre Großmutter wisse, so die Schülerin, was ihrem Vater zugestoßen war, den sie als damals Fünfjährige kaum kennengelernt hatte. Der Anhänger an dem Armband soll bald eine neue Gravur erhalten: Gestorben am 24. März 1945.

Wer selbst nach Angehörigen suchen will, die seit dem Zweiten Weltkrieg verschollen sind, kann auf der Webseite des Roten Kreuzes eine Suchanfrage stellen. Je mehr Angaben zu der gesuchten Person gemacht werden können, desto besser für die Recherche. Die Auskünfte an Angehörige und Betroffene sind in der Regel kostenlos.