Berlin. Edgar H. – ein Schüler aus bürgerlichem Elternhaus – soll Mitschülerin mit 20 Messerstichen getötet haben

    Drei Möglichkeiten sah Karin G.: „Aus dem Fenster springen, den Schmerz mit Alkohol ertränken oder weitermachen.“ Als die 41-Jährige das sagte, hatte sie schon entschieden weiterzuleben. „Keira hätte nicht gewollt, dass ich aufgebe“, sagte sie vor dem Prozess gegen den 15-jährigen Schüler aus Berlin, der ihre Tochter mit mehreren Messerstichen getötet haben soll.

    Karin G. hatte ihr blutüberströmtes Kind am 7. März gefunden, als sie von der Arbeit nach Hause kam. Ärzte konnten das Leben der 14-Jährigen nicht mehr retten. In der Anklage der Staatsanwaltschaft heißt es, Keira wurde mit etwa 20 Messerstichen „tatplangemäß und aus reiner Mordlust getötet“. Sie kannte ihren mutmaßlichen Mörder. Sie gingen auf dieselbe Schule. Keira in die achte Klasse. Der Angeklagte, ein Deutscher, Edgar H., besuchte die neunte Klasse.

    Gestern musste sich Edgar H. vor dem Berliner Landgericht verantworten. Dem Jugendlichen wird Mord aus Heimtücke, niedrigen Beweggründen und Mordlust vorgeworfen. Seit einem Jahr sitzt er in Untersuchungshaft. Das ist bei Jugendstrafe ungewöhnlich. „Es ist ein außergewöhnlicher Fall“, betonte Anwalt Roland Weber, der die Mutter der 14-Jährigen als Nebenklägerin begleitete. „Dass Mordlust bei einem Jugendlichen angeklagt ist, sei sehr selten. Das bedeute, aus Freude darüber zu töten, ein anderes Leben zu vernichten“, so Weber.

    Karin G., gekleidet mit schwarzem Pullover und weißem Schal, sitzt im Saal B 218 dem mutmaßlichen Mörder erstmals persönlich gegenüber. Sie fixiert den Mitschüler von Keira mit starrem Blick. Die 41-Jährige kennt ihn nur aus Erzählungen ihrer Tochter. Der Fall hatte bundesweit für Aufregung und Bestürzung gesorgt. Keira war bei Mitschülern und Sportkameraden sehr beliebt. Sie war erfolgreiche Eisschnellläuferin, holte noch im Januar in ihrer Altersklasse den Titel einer Berliner Meisterin über 1500 Meter.

    Edgar H. versteckt sein Gesicht hinter einem Stück Papier, als die Öffentlichkeit am Morgen für die Vereidigung einer Hilfsschöffin für wenige Sekunden in den Saal gelassen wird. Er trägt ein Kapuzenshirt, blaue Jeans und blaue Turnschuhe, hat eine Zahnspange – ist eher noch Kind als Mann.

    Er soll ein unauffälliger, mittelmäßiger Schüler gewesen sein, wohlbehütet aufgewachsen in einem bürgerlichen Elternhaus. Einen Tag nach Keiras Tod wurde er festgenommen. Die Beamten sollen durch Keiras Handydaten auf seine Spur gekommen sein.

    Die Staatsanwaltschaft geht in der Anklageschrift davon aus, dass sich Edgar H. unter einem Vorwand Zutritt zur Wohnung von Keira verschafft habe. Die Motivation für die Tat liegt noch im Dunkeln. Bei der Polizei soll Edgar H. gesagt haben, dass er Keira auf deren Verlangen hin getötet habe.

    Für Karin G. klingt das völlig aus der Luft gegriffen. Sie könne so etwas nicht ernstnehmen. Sie sagt, es habe nie eine Entschuldigung, nicht mal den Versuch von dem mutmaßlichen Täter oder dessen Eltern gegeben. „Nichts, gar nichts.“ Leise fügt sie hinzu: „Und jetzt will ich das auch gar nicht mehr.“ Sie hat schon vor dem Prozess in Interviews resignierend festgestellt, dass Edgar H. nur eine Jugendstrafe zu erwarten habe, dass er also maximal zehn Jahre hinter Gitter verbringen müsse. Für sie viel zu wenig.

    Überlegungen, wegzuziehen, habe sie beiseite gewischt. „Hier bin ich meiner Tochter nah, hier sind die Erinnerungen an sie.“ In gewisser Weise habe es ihr sogar geholfen, dass sie ihr Kind in deren Zimmer gefunden habe und nicht irgendwo im Wald. „Keira wusste, dass ich komme – auch das gehört zu meinem Kartenhaus.“

    Manchmal treffe sie sich noch mit Mitschülern, erzählte Karin G. Dann säßen sie gemeinsam im Zimmer der Tochter, denken an Keira, weinen zusammen – „aber hinterher fühlen wir uns alle besser“. Zumindest für eine kurze Zeit. Sie ist eine gebrochene Frau. Die Tochter war der wichtigste Mensch in ihrem Leben. Karin G. hat inzwischen eine Trauma-Therapie gemacht.

    Nun kommt noch eine weitere zur Trauer-Bewältigung hinzu. In eine Selbsthilfegruppe wolle sie aber nicht, sagt sie. Allerdings hole sie das Grübeln immer wieder ein. Sie könne nicht verstehen, warum Menschen so etwas tun.