Washington. Die Zahl der Drogen-Toten steigt auf Rekordhoch – schuld ist der leichtfertige Umgang mit Schmerzmitteln

Mike O’Connell aus Louisville weiß, wie es ist, wenn das „heimtückische Monster“ zuschlägt. Der Bezirksstaatsanwalt im US-Bundesstaat Kentucky verlor durch opiathaltige Schmerzmittel und Heroin seinen Sohn Matt. 2016 sind über 60.000 Amerikaner der „neuen Seuche“ zum Opfer gefallen. Mehr als durch Schusswaffen oder Autounfälle.

Bevor Präsident Donald Trump heute Abend deshalb den „nationalen Notstand“ samt Gegenmaßnahmen verkünden wird, hat O’Connell mit Bürgermeister Greg Fisher bereits die Notbremse gezogen. Drei der landesweit größten Pharmavertreiber, die Drogerie- und Apothekenketten wie CVS mit stark süchtig machenden Schmerzlösern wie Oxycontin beliefern, wurden auf mehr als 150 Millionen Dollar (127 Millionen Euro) Schadensersatz verklagt. „Wir haben eine ganze Generation an diese Opiate verloren“, sagt der Demokrat Fisher, „es wird Zeit, dass die Verursacher den Schaden begleichen.“ Ob es zum Prozess kommt? Offen.

Die Vorgeschichte: Über Jahre verschrieben Ärzte auch bei Allerweltserkrankungen frei erhältliche „Painkiller“ mit Opiaten. Hammer-Schmerzmittel mit hohem Suchtpotential. Hersteller wie Purdue aus Connecticut nahmen damit Milliarden ein. Als die Todeszahlen durch falsche Dosierung explodierten, schränkte der Gesetzgeber die Vergabe ein. Mit dem Resultat, dass die abhängig gewordenen Patienten Ersatz suchten. Die aus Lateinamerika operierenden Drogenkartelle lieferten ihn zum Spottpreis: Heroin.

Früher Schmerzpatient,heute drogenabhängig

Konsequenz: Millionen von Menschen, die wegen einer Kniearthrose oder eines Bandscheibenschadens Schmerzmittel einnahmen, aber weit davon entfernt waren, in die Drogenszene abzugleiten, hängen heute an der Nadel.

Weil Präventionsangebote und Therapieplätze in Amerika Mangelware sind, stieg die Zahl der Überdosierungen und Todesopfer immer rasanter. Zumal Dealer mit Fentanyl und Carfentanyl (letzteres ein Betäubungsmittel für Elefanten) noch vielfach stärkere Mittel in Umlauf brachten. Dramatische Konsequenz: Zum ersten Mal seit 24 Jahren ist die Lebenserwartung in den USA gesunken und Medikamentenmissbrauch/Heroin/Fentanyl etc. die häufigste Todesursache für Menschen im Alter unter 50 Jahren geworden. „Das ist eine Epidemie nationalen Ausmaßes“, sagt die Gesundheitsdezernentin von Baltimore, Dr. Leana Wen, „und wir haben keine Ahnung, wann der Höhepunkt erreicht ist“. Dabei musste die Firma Purdue, die das Medikament Oxycontin 1995 auf den Markt brachte, bereits 2007 rund 600 Millionen Dollar (508 Millionen Euro) Strafe zahlen, weil es die Nebenwirkungen verharmlost hatte.

Die 60.000 Toten im Jahr 2016 bedeuten laut Gesundheitsbehörde CDC eine Beinahe-Verfünffachung in nicht einmal acht Jahren – und einer Todesrate von mehr als 20 auf 100.000 Einwohner. In Deutschland sterben pro Jahr etwa 1,5 Menschen je 100.000 Einwohner an Drogen.

Ein Verhältnis, von dem Steve Williams nur träumen kann. Er ist Bürgermeister von Huntington. Das 50.000-Einwohner-Städtchen liegt in den sozial schwachen Kohlerevieren von West Virginia. Seit Huntington an einem einzigen Sommertag 28 Überdosierungen verzeichnete, gilt das Nest landesweit als „Ground Zero“ der Opioidkrise.

Williams berichtet von Hunderten Babys, die mit Entzugserscheinungen auf die Welt kommen, weil ihre Mütter von Heroin abhängig sind. Wobei 80 Prozent der Süchtigen mit Schmerzlösern angefangen haben. Im Landkreis Cabell County, zu dem Huntington gehört, gingen binnen fünf Jahren fast 50 Millionen Dosen Opioide über die Ladentheke.

Die Hoffnungen ruhen auf Donald Trump. Der Präsident hatte bereits Anfang August den „nationalen Notstand“ angekündigt und versprochen alles zu tun, um der „Epidemie“ Einhalt zu gebieten. Geschehen ist seither nur das: knapp 10.000 Tote zusätzlich. Und woher kommt das Geld, um die Sucht zu bekämpfen? Bezirksstaatsanwalt Mike O’Connell wird heute genau zuhören, wenn der Präsident ans Mikrofon tritt.